Die Koalitionsverträge werden alle vier Jahre dicker, die Verhandlungskommissionen größer. Die Politikwissenschaft hat Worte und Köpfe akribisch gezählt: Der Papierausstoß wuchs seit den 1980er Jahren um das Fünfzigfache, die Zahl der Verhandler:innen versechsfachte sich allein zwischen 2002 und 2017/18. Das schreiben in einer im Sommer erschienenen Analyse und kleinen Geschichte der Koalitionsverhandlungen für die Konrad-Adenauer-Stiftung Oliver Kannenberg, Danny Schindler und Suzanne Schüttemeyer.

Etwa 300 Fachpolitiker in 22 Arbeitsgruppen verhandelten den Ampel-Vertrag; 51 603 Wörter oder 177 Seiten ist das Werk lang, das SPD, Grüne und FDP vergangene Woche vorstellten. Damit blieben sie aber unter den Rekorden der beiden vorherigenRegierungen mit einem Ausstoß von rund 63 000 Wörtern.

„Früher reichte ein Handschlag, um eine Koalition zu besiegeln“, schimpfte kürzlich ein Kommentator der „Frankfurter Allgemeinen“. Spiegelstriche, eckige Klammern, wochenlanges Diskutieren hinter verschlossenen Türen: „Intransparent, übergriffig, undemokratisch“ sei das Ganze, polterte er.

Dieses mythische „Früher“ des schlichten Handschlags – unter Männern – liegt allerdings schon sehr lange zurück. Lediglich die erste Regierung der Bundesrepublik wurde 1949 zwischen Konrad Adenauer von der CDU und dem damaligen FDP-Chef Franz Blücher ausgeknobelt. Schon die nächsten Anfänge waren schriftlicher, man schickte sich Briefe und notierte Absichtserklärungen. Den ersten richtigen Koalitionsvertrag gab es dann 1961. Damals bestand die FDP gegen den Widerstand der Union auf einem förmlichen Vertrag, bevor sie wieder mit Adenauer regierte – unter anderem, um sicherzustellen, dass der Alte aus Rhöndorf nicht die gesamte Legislaturperiode im Kanzleramt bliebe.

Danach war erst einmal Vertragspause. Die Große Koalition 1966 und auch die folgenden sozialliberalen Regierungen unter Willy Brandt und Helmut Schmidt veröffentlichten ihre Pläne erst jeweils mit ihrer Regierungserklärung im Parlament. Doch seit Helmut Kohl ist der Koalitionsvertrag zum Must jeder neuen Regierungsbildung geworden, seit 2002 inklusive einer „zeremoniellen Vorstellung“ des Werks, schreiben Kannenberg, Schindler und Schüttemeyer. Damals setzte Rot- Grün die Unterzeichnung in der Neuen Nationalgalerie in Berlin festlich in Szene.

Alles Theater? Oder schlimmer: eine „Strangulierung“ des Parlaments, dessen gewählte Volksvertreter:innen nur noch notariell beglaubigen dürften, was längst en détail beschlossen wurde? So jedenfalls zitiert die KAS-Studie anonym ein Mitglied früherer Verhandlungsrunden und stellt fest: Auf jeden Fall ließen solche Verträge den „Spielraum politischer Führung“ schrumpfen, insbesondere der Parteispitzen. Der Sinn für die Notwendigkeit politischer Führung sei freilich sowieso heute „brüchiger“ – die detaillierten Verhandlungen mit vielen Beteiligten machten das nur besonders sichtbar.

Da widerspricht Robert Vehrkamp entschieden. „Koalitionsverträge sind vielmehr ein sehr gutes Instrument politischer Führung“, sagt der Leiter der Demokratie-Abteilung der Bertelsmann-Stiftung. Sie machten das, was in vier Jahren geschehen solle, „planbar, transparent und nachprüfbar“. Er frage sich, welches Demokratieverständnis hinter der Klage stecke, dass der Spielraum des einen starken Manns oder der starken Frau an der Spitze kleiner werde.

Ohnehin bedeute ein Koalitionsvertrag nicht, dass die Bundestagsmehrheit nur noch abnicken dürfe, was beschlossen wurde; jeder und jede Abgeordnete könne nach wie vor das freie Mandat nutzen und sich dem widersetzen, was verabredet wurde. Schließlich werde da kein einklagbarer Vertrag geschlossen, sondern man verspreche einander etwas.

Für die parlamentarische Arbeit lässt die nicht planbare Wirklichkeit – siehe Corona – sowieso genug übrig, jenseits aller Verabredungen. Vehrkamp will sich mit seinem Team unter diesem Aspekt die vergangene Legislaturperiode noch einmal ansehen: „Nach ersten Schätzungen gehen maximal etwa 50 bis 60 Prozent der gesetzgeberischen Tätigkeit der letzten Regierung Merkel auf den Koalitionsvertrag zurück.“

Verträge ermöglichen aber auch den Bürger:innen, nachzuprüfen, was jede Seite an Forderungen durchgesetzt und was sie am Ende erreicht hat. Da ist die Output-Bilanz der scheidenden schwarz- roten Bundesregierung ansehnlich: 73 Prozent von dem, was sie 2018 versprochen hatten, setzten Union und SPD vollständig um, fanden Vehrkamp und die Demokratie-Spezialistin Theres Matthieß, derzeit am WZB Berlin, heraus. Weitere 15 Prozent wurden zum Teil wahr. Dabei zählten sie nur echte Versprechen, keine bloßen Absichtserklärungen. Schon das schwarz-rote Bündnis von 2013 hatte 64 Prozent seiner Versprechen ganz und 15 Prozent zum Teil gehalten.

Der Ampel-Koalitionsvertrag freilich bindet jetzt nicht nur erstmals drei Parteien zum gemeinsamen Regieren. Sie sind auch denkbar unterschiedlich. Von allen vorstellbaren oder bereits erprobten Koalitionen – für die es im neuen Bundestag freilich keine Mehrheit gibt – hat die demnächst regierende Ampel den geringsten Vorrat an programmatischen Gemeinsamkeiten, hat man in der Stiftung ausgerechnet. Rot-Rot-Grün hätte bei zwei Dritteln, Schwarz-Gelb bei 50 Prozent und selbst die alte Groko noch bei 40 Prozent gelegen. SPD, Grüne und FDP kommen nur auf magere 24 Prozent Gemeinsamkeit.

Insofern könnten die Gegensätze dieses selbst ernannte Fortschrittsbündnis – „ideologisch überdehnt“ nennen es Vehrkamp und sein Co-Autor, der Darmstädter Politologie-Professor Christian Stecker – zerreißen, trotz des ausgeklügelten Koalitionsvertrags. In einem PolicyBrief, der diese Woche veröffentlicht wird und dem Tagesspiegel vorliegt, haben sie sich überlegt, wie es dennoch gehen und die Ampel zudem das Regieren modernisieren könnte in Zeiten, da das altbundesrepublikanische Parteiensystem immer mehr bröselt.

Ihr Vorschlag ist radikal: Raus aus dem starren Koalitionskorsett, weg von den üblichen Treueschwüren, man werde überall und immer als Ampel gemeinsam abstimmen – und stattdessen von Fall zu Fall wechselnde Mehrheiten mit den Oppositionsfraktionen suchen. Weil das den Bruch mit dem seit Generationen eingeschliffenen bundesdeutschen Regieren bedeuten würde, schlagen die Fachleute erst einmal Schritte auf Probe vor.

So könnte man damit anfangen, einander die Freiheit zum Widerspruch zuzugestehen – „agree to disagree“. Die Parteien würden, so die Hoffnung, ihr Profil in einer Koalition weniger abschleifen, indem sie schwerverdauliche Kompromisse in „rhetorischen Klimmzügen“ und Koalitionstreue ihrer Basis und Wählerschaft schönreden müssten – die Grünen zum Beispiel die Niederlage beim Tempolimit. Vom Reden käme man womöglich zum Handeln – Abstimmung ohne Koalitionszwang –, vielleicht für die Reform der Schuldenbremse, für die sowieso das Grundgesetz geändert werden und die Opposition mitziehen müsste.

Was brächte dann noch ein Koalitionsvertrag? „Er regelt die übrigen 90 Prozent der Vorhaben“, antwortet Forscher Vehrkamp. Politchaos sähe er keineswegs ausbrechen: „Die Koalition würde offene Abstimmungen ja nur von Fall zu Fall erlauben und auch nicht anarchisch. Das Wo und Wie wäre ebenfalls im Vertrag vereinbart und festgelegt.“

Angesichts der Fliehkräfte in Scholz’ „Mehr Fortschritt wagen“-Bündnis empfiehlt er dringend, die alten Formen des Regierens zu reformieren, auch mit Blick auf die Zukunft der parlamentarischen Demokratie: „Bleibt die Union zusammen, bekommen die Grünen radikalere Konkurrenz? Wenn es stimmt, dass die Segmentierung unseres Parteiensystems noch nicht zu Ende ist, werden flexiblere Koalitionsmodelle immer dringlicher.“