Frau Kaljulaid, Sie waren von 2016 bis 2021 Staatspräsidentin von Estland. Haben Sie Angst, dass Russlands Präsident Wladimir Putin eines Tages auch Ihr Land überfällt?

Aus rationaler Sicht muss die Antwort „Nein“ lauten. Estland ist Nato-Mitglied, deshalb sollten wir in Sicherheit sein. Niemand hat jemals ein Nato-Mitgliedsland angegriffen. Aber wenn man in der gegenwärtigen Lage einige Äußerungen von russischer Seite hört, stellt sich die Frage, in wie weit man auf Rationalität zählen kann. Hinter solchen Wortmeldungen steckt die Absicht, uns in Angst zu versetzen. Wir sollten uns nicht davon einschüchtern lassen.

Haben Sie denn Vertrauen, dass das Militärbündnis der Nato Sie verteidigen könnte?

An der Fähigkeit der Nato, die Sicherheit ihrer Mitglieder zu gewährleisten, hat sich nichts geändert. Aber inzwischen erzählt die russische Führung ihrer Bevölkerung, dass sie sich im Krieg gegen die Nato befinde. In Moskau wird erklärt, dass die Nato in der Ukraine aktiv sei. Das soll auch gegenüber der Bevölkerung als Erklärung herhalten, warum Russland diesen Krieg nicht gewinnt. Trotzdem: Wir fühlen uns weiterhin als Nato-Mitglied sicher.

Hat sich Putin mit seinem Überfall auf die Ukraine überschätzt?

Der Angriff auf die Ukraine war nicht völlig rational. Putin hat versucht, ein Land wie die Ukraine mit gerade einmal zweieinhalb Mal so vielen Soldaten wie beim Feldzug gegen Tschetschenien in Besitz zu nehmen. Der Kreml hat sich im Fall der Ukraine verkalkuliert, weil er kein Verständnis dafür hat, dass es in Demokratien für die Menschen wirklich eine Bedeutung hat, in welchem System sie leben. Putin begreift das nicht. Aber eines versteht er hoffentlich: Die Nato ist zur Verteidigung von jedem Quadratmeter ihrer Mitgliedsstaaten bereit.

Die Republik Moldau gehört nicht zur Nato. Das Land muss befürchten, als Nächstes von Putin überfallen zu werden.

Das stimmt. Die Menschen in der Republik Moldau teilen offen ihre Befürchtungen mit uns. Deshalb sollten wir sie mit allen unseren Mitteln unterstützen. Wir als EU-Gemeinschaft haben Moldau zum EU-Beitrittskandidaten gemacht. Entscheidender ist es in der gegenwärtigen Lage, der Ukraine zu helfen, diesen Krieg zu gewinnen. Wenn die Ukraine militärisch erfolgreich ist, wird das auch in irgendeiner Form zum Umdenken in Moskau führen. Man würde Zeit gewinnen, um die Ukraine sicher in die EU zu bringen. Dasselbe gilt auch für die Republik Moldau.

Sollte die Ukraine in den nächsten zwei Jahren der EU beitreten?

Nein. Aber vielleicht täusche ich mich auch. Ich gehe davon aus, dass die EU vor einem Beitritt massive Hilfe leisten muss, um die Institutionen in der Ukraine auf die EU-Mitgliedschaft vorzubereiten. Die Korruption muss bekämpft werden, und die Justiz in der Ukraine muss so gestaltet werden, dass beispielsweise europäische Firmen hier ein sicheres Umfeld für ihre Investitionen haben. All dies stellt ein Problem in der Ukraine dar.

Inzwischen geht es um den Nato-Beitritt der Ukraine. Müsste sich Putin nicht durch einen solchen Schritt provoziert fühlen?

Ich bin davon überzeugt, dass die Ukraine dann am Ende am sichersten ist, wenn sie Nato-Mitglied ist. Sämtliche Nato-Mitgliedstaaten werden dafür sorgen müssen, dass in der Ukraine eine glaubhafte Abschreckung gegen Russland entsteht.

In Deutschland hat die Vorsitzende der Linkspartei, Janine Wissler, davon gesprochen, dass sich der Krieg in der Ukraine auch durch die Osterweiterung der Nato erkläre. Was halten Sie davon?

Ich stimme damit überhaupt nicht überein. Die Führung in Russland glaubt selber nicht daran, obwohl sie dieses Narrativ verbreitet. Es war eine Lüge. Viele der Truppen, die Russland im Ukraine-Krieg einsetzt, kommen aus den russischen Gebieten, die unmittelbar an Nato-Gebiet angrenzen. Wenn Moskau die Nato wirklich als ein Sicherheitsrisiko wahrnehmen würde, dann wären im Westen Russlands jetzt viel mehr Truppen stationiert.

Bevor es in Deutschland zur „Panzerwende“ kam, wurde gegen die Bereitstellung von Leopard-2-Panzern hierzulande gelegentlich eingewandt, dass Deutschland wegen seiner Historie doch unmöglich schwere Kampfpanzer Richtung Osten schicken könne. Ist das nachvollziehbar?

Als vor einigen Jahren Nato-Kampftruppen zur Sicherung der Ostflanke ins Baltikum verlegt wurden, habe ich auf eine ähnliche Journalistenfrage geantwortet: Kommt endlich über den Zweiten Weltkrieg hinweg. Der Satz gilt heute noch. Je schneller das passiert, umso besser ist es. Es mag Zeit kosten, die eigene Geschichte zu reflektieren. Aber diese Zeit haben wir nicht. In der Ukraine sterben täglich rund 100 ukrainische Soldaten an der Front, rund 300 werden verwundet. Jeder Tag, der mit Nachdenken zugebracht wird, lässt den Sieg weiter in die Ferne rücken.

Handelt Deutschland im Ukraine-Krieg zu zögerlich?

Deutschland sagt, dass es Zeit braucht, um einen Entschluss zu fassen. Ich bin überzeugt, dass Deutschland am Ende immer die richtigen Entscheidungen fällt. Die Bundesregierung hat sehr viel militärische Unterstützung geleistet. Ich verstehe aber auch die Ungeduld der Ukraine. Für die Ukraine wird Zeit nicht in Stunden gemessen, sondern in Menschenleben.

Sollte Kiew Kampfflugzeuge erhalten, um sich verteidigen zu können?

Wenn die Ukrainer sagen, dass sie die Kampfflugzeuge benötigen, dann sollten wir ihnen helfen.

Wird sich der Zeitfaktor am Ende zu Putins Gunsten auswirken, weil er willens scheint, russische Soldaten in großem Maße zu opfern?

Ich gebe zu, dass dieses Risiko besteht. Deshalb rufen wir ja auch alle Verbündeten und Partner dazu auf, der Ukraine dabei zu helfen, diesen Krieg nicht nur zu gewinnen, sondern auch schnell eine Entscheidung herbeizuführen. Ich weiß, dass einige Kiewer Vertreter beunruhigt auf die Zusicherung des Westens während der Münchner Sicherheitskonferenz reagiert haben, die Ukraine langfristig zu unterstützen. Der Ukraine geht es aber jetzt akut um eine schnelle Unterstützung, nicht um langfristige Hilfszusagen. Je rascher dieser Krieg zu Ende ist, umso besser ist es.

Kanzler Olaf Scholz sagt, man wolle die Ukraine so lange wie notwendig unterstützen. Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron spricht von einer Unterstützung bis zum Sieg. Sehen Sie darin einen Unterschied?

Mein Französisch ist gut, aber mein Deutsch ist denkbar schlecht. Ich will jetzt nicht auf derartige semantische Unterschiede eingehen. Bei der Münchner Sicherheitskonferenz haben wir uns bei den Hauptveranstaltungen alle zu Recht dafür gelobt, wie viel militärische Unterstützung wir geleistet haben. Aber am Rande der Veranstaltung war doch die Sorge der Ukrainer deutlicher spürbar, dass es mit der militärischen Hilfe nicht schnell genug vorangeht.

Kommt es dann zu einer Friedensvereinbarung, wenn keine der beiden Seiten davon ausgehen kann, noch substanzielle Geländegewinne zu machen?

So enden Kriege in der Regel. Aber das Entscheidende ist, dass die Ukrainer selber eine derartige Überlegung anstellen müssen. Wir entscheiden nicht über die Köpfe der Ukrainer hinweg. Wir liefern, und sie entscheiden.

Wäre es ein realistisches Kriegsziel, dass die Ukraine die Krim zurückerobert?

Ich kann die taktischen oder strategischen Möglichkeiten dafür nicht einschätzen. Aber ich weiß eines: Überall dort, wo ukrainische Truppen Gebiete zurückerobert haben, haben sie auch Kriegsverbrechen russischer Soldaten festgestellt. In dieser Hinsicht sollte auch die Krim wieder befreit werden, wenn die Ukrainer glauben, dass sie dazu in der Lage sind. Wir reden zwar immer von Territorien, aber in Wahrheit geht es um Menschen – Vergewaltigungen, Verschleppungen, Morde.

Sollte Putin persönlich vor einem internationalen Gericht wegen der Kriegsverbrechen angeklagt werden?

Gegenwärtig scheint der Auftrag der UN-Vollversammlung an den Generalsekretär Antonio Guterres, mit der Ukraine über die Modalitäten eines internationalen Gerichts zu verhandeln, von allen Optionen die größte Aussicht auf Erfolg zu haben. Für Rechtsexperten ist das möglicherweise ein schwieriges Terrain. Aber in der breiten Bevölkerung gibt es ein gutes Gespür dafür, was wirklich passiert ist. Und die Grundüberzeugung, dass Kriegsverbrechen nicht ungesühnt bleiben dürfen, muss sich durchsetzen.

Könnte Russland taktische Atomwaffen einsetzen, sobald die Ukraine versucht, die Krim wiederzuerlangen?

Wer weiß? Sie wollen, dass wir Angst haben. Im Moment gibt es kein echtes Risiko, dass Nuklearwaffen zum Einsatz kommen. Lasst uns einfach Kurs halten.

Im zurückliegenden ersten Kriegsjahr ist es der EU gelungen, ihre Einheit zu bewahren und fast ein Dutzend Sanktionspakete gegen Russland zu schnüren. Nur der ungarische Regierungschef Viktor Orban agiert immer wieder als Quertreiber. Beim jüngsten Treffen osteuropäischer Staaten mit US-Präsident Joe Biden in Warschau fehlte er. Gefährdet Orban die Einheit der EU?

Ungarn hat uns gezeigt, was interessengeleitete Politik bedeutet – im Gegensatz zu wertegeleiteter Politik. Sie fahren einen anderen Kurs in der EU und bekommen im Gegenzug billige Energielieferungen und wahrscheinlich noch andere Dinge von Russland. Die restlichen EU-Mitglieder lehnen das ab. Vielleicht ist nicht jeder in Estland angesichts der Entwicklungen in Ungarn besorgt. Aber ich bin es jedenfalls.

Frau Kaljulaid, Sie werden zu den möglichen Kandidatinnen und Kandidaten für die Nachfolge des Nato-Generalsekretärs Jens Stoltenberg gerechnet. Würden Sie das oberste Amt im westlichen Militärbündnis antreten?

Genauso wie unsere Premierministerin Kaja Kallas und alle anderen osteuropäischen Politikerinnen würde ich antworten: Wählt eine von uns aus, wir sind alle für diese Aufgabe bereit. Es gibt gegenwärtig viele gute Politikerinnen in unserer Region, die diesen Job machen könnten. Am Ende liegt die Entscheidung bei der Nato.