Ein Mann lehnt in Badehose am Geländer eines Balkons. Sein Körper ist abgewandt, doch sein Blick schweift über das Wasser und die Landschaft, die vor ihm liegt. Ein Sujet, wie es in der Malerei unzählige Male festgehalten wurde. Wären da nicht die Farben: Die Haut des Mannes glänzt pink, der Himmel strahlt grün, die Landschaft gelb. Und die Formen: Das Geländer erinnert an eine Menora – den siebenarmigen Leuchter, eines der wichtigsten Symbole des Judentums.

Nur wenige Meter vom Wannsee entfernt, in der Galerie Wannsee Contemporary, scheint es, als wäre das Gemälde für diesen Ort geschaffen worden. Der Maler Navot Miller und der Galerist Avi Feldman wissen um die Symbolik des Motivs. Die Grenzen zwischen innen und außen, Geborgenheit und Freiheit, die das Fensterbild traditionell in sich vereint, wirken mit der Stadt im Rücken noch stärker.

Aber Miller beschreibt in „Boy on Balcony Remake“ (7900 Euro) auch die Gegensätze seiner eigenen Biografie: Die Rückenfigur bewegt sich zwischen queerer Liebe und religiösem Alltag, Berlin und der Welt, Wirklichkeit und Traum. Miller, 1991 geboren, wuchs in einer konservativ-orthodoxen Siedlung im Westjordanland auf, die von der Landwirtschaft lebte.

In seiner Jugend half er dem Vater auf dem Feld, lernte Treckerfahren und versuchte hineinzupassen in eine Welt, in der er sich fremd fühlte. Bis er mit Anfang zwanzig nach Berlin kam, wo er Kunst studierte. Die Erfahrungen seiner Jugend und das jüdisches Erbe bilden die Basis seiner Bilder, genau wie sein neues Zuhause und die Freiheit, die damit verbunden ist. Die Signatur setzt Miller ganz selbstverständlich auf Hebräisch; seine Pejes, die traditionellen Schläfenlocken, trug er bis vor Kurzem noch blondiert.

Eines seiner neusten Gemälde zeigt zwei pinke Traktoren in Öl, die wie in einem Finde-den-Fehler-Rätsel untereinander auf der Leinwand angeordnet sind (5100 Euro). Während offensichtliche Abweichungen nicht ins Auge fallen, liegt die Deutung auf der Hand: Die pinke Farbe will nicht zum Genderstereotyp der wettergegerbten Männlichkeit eines Landarbeiters passen. Miller hebt diesen Fehler auf. Er schreibt seine eigene Vergangenheit um und erfindet eine Welt, in der ein queerer Teenager auf einem pinken Traktor kein Außenseiter wäre.

Um sein Leben auf die Leinwand zu bringen, nutzt Miller Fotografien seiner Kindheit oder iPhone-Schnappschüsse als Vorlagen. So wie Erinnerungen über die Jahre verschwimmen, mischt er Szenen seines Alltags. Er collagiert die Aufnahmen, platziert Menschen, die er liebt, in Umgebungen, die sie nie betreten haben. So auch in der großformatigen Papierarbeit „Lori, Amir, Meital & Navot in NYC“ (3900 Euro), in der er ein Kindheitsfoto in Umrissen mit Pastellkreide skizziert und vor einer fiktiven New Yorker Hausfassade arrangiert.

Manche mögen Millers Farbpalette als psychedelischen Farbrausch deuten, in dem er der Wirklichkeit entflieht. Millers Bildwelt lässt aber auch ganz reale Referenzen zu. Wie die an den Maler Patrick Angus, der das schwule Leben im New York der Achtziger festhielt oder an David Hockney, der in den Siebzigern immer wieder Freunde und Liebhaber in sonnendurchfluteten Interieurs und Swimmingpools malte. Hockney und Miller verbindet das kippbildhafte ihrer Gemälde: In all der Unbeschwertheit der Sehnsuchtsmotive ist der Moment, in dem die Leichtigkeit langsam entgleitet, schon angelegt.

Vielleicht liegt es an dieser Stimmung, dass sich immer mehr Sammler für Miller interessieren. Galerist Avi Feldman erzählt von Kaufanfragen aus New York und Singapur. Die Vernetzung vor der eigenen Galerietür ist ihm aber genauso wichtig: Nach Jahren als Kurator zwischen Tel Aviv, New York und Dresden zog der Jurist 2020 mit seiner Familie an den Wannsee. Mit der Liebermann-Villa, dem Literarischen Colloquium und der American Academy in der Nachbarschaft befand er sich bereits in bester, kreativer Gesellschaft, doch ein Ort für junge Kunst, das fehlte ihm in der Umgebung.

So gründete er Wannsee Contemporary im vergangenen Herbst mit der Idee, Werke von zeitgenössischen Künstlern genau hier auszustellen. Mit der Galerie Mutter Fourage ein paar Hausnummern weiter will er zusammenarbeiten, Kooperationen mit weiteren Institutionen im Bezirk sollen folgen. „Es ist mir wichtig, mit den Menschen in der Gegend ins Gespräch zu kommen und auch Publikum aus der Stadt hierher zu bringen", sagt er. „Gleichzeitig ist dieser Stadtteil so reich an Geschichte, dass ich die Künstler, die bei mir ausstellen, ermutige, den Ort besser kennenzulernen, ja, sogar künstlerisch auf ihn zu reagieren.“

Auch Navot Miller hat für die Ausstellung ein neues Werk geschaffen, das auf die Gegend eingeht. Das Ölgemälde „Boat in Spandau“ (5100 Euro) zeigt ein Segelboot, das zum Überwintern im Vorgarten abgestellt wurde. Schnee und Kälte existieren in Millers Kosmos nicht: Der Sommer hat auf seiner Leinwand immer Saison. So wirkt die beiläufige Beobachtung über die Umgebung hinaus und überbrückt Raum und Zeit. Man könnte sie in jedem anderen Küstenvorort vermuten: in den Hamptons, in Jaffa oder eben am Wannsee.Laura Storfner

Wannsee Contemporary, Chausseestr. 46, bis 26.3..; Di bis Do 12 – 15 Uhr, Fr bis 18 Uhr, Sa bis 14 Uhr.