Die Frau zieht die Stirn in Falten, sie hat Wut in den Augen. Das entspricht nicht ganz dem Bild rosaroter Frauen-Power à la Barbie. Sandra Stops hat eine ganze Serie dieser Wut-Frauen-Porträts jenseits von Schönheitsidealen gemalt.

Zur Art Week sind sie gemeinsam mit Porträt-Arbeiten elf weiterer Künstler:innen in einer ehemaligen Rossmann-Filiale sowie einer leerstehenden Bäckerei und einem Handyladen am Gesundbrunnencenter ausgestellt. Man erreicht die Kunst über eine Außentreppe, durchquert einen Lastenaufzug und steht in einem der lässigsten Off-Orte der Berlin Art Week.

Das „Fachmarktzentrum“ am Gesundbrunnen soll abgerissen werden. Wegen einiger langer Mietverträge wird das nicht vor 2025 passieren. Dass Mieter, wie Rossmann und der Bäcker schon ausgezogen sind, kommt nun Lena Ashs nomadischem Projektraum zugute. Vermittelt wurden die üppigen Flächen – 800 Quadratmeter insgesamt – von Culterim, einer auf kulturelle Zwischennutzungen spezialisierten GmbH mit Sitz in Moabit.

Initiator ist Culterim-Geschäftsführer Dennis Gegenfurtner, Volkswirt und Musiker. Culterim vermietet die Flächen am Gesundbrunnen für 25 bis 40 Euro – pro Tag und Objekt. Bei diesen Selbstkostenpreisen melden sich natürlich viele Künstler. Gegenfurtner sagt, bei der Auswahl seien nicht Lebensläufe oder Abschlüsse ausschlaggebend, sondern allein die Kunst.

Zu der Gruppe aus zwölf Gleichgesinnten, die Künstlerin Lena Ash um sich versammelt hat, passt das bestens. Sie nennen sich „Chair-2-Chair“. Die Zwischen-den-Stühlen-Sitzenden. Es sind Künstler, die einen weiteren Beruf haben oder hatten: Chemikerinnen, Lehrer, Wissenschaftler.

Zwischennutzung als Chance

Sandra Stops ist Politologin, arbeitete lange in einem Umweltinstitut, gründete eine Schokoladenmanufaktur. Genau wie die anderen, hat sie irgendwann einen Richtungswechsel gewagt. Das sorgt für ähnliche Herausforderungen: Man braucht ein Netzwerk, Arbeitsräume und Ausstellungsmöglichkeiten. Für Quereinsteiger:innen nicht so leicht zu kriegen, erst recht, wenn sie bei Preisen, Stipendien und Förderungen schon altersmäßig durchs Raster fallen.

Nur eine Woche dauert die Ausstellung. Um Besucher:innen während der mit Highlights vollgepackten Art Week zum Gesundbrunnen zu locken, bieten „Chair-2chair“ jeden Tag Programm. Die gestickten Porträts von Lena Ash zeigen die Gesichter von Frauen, die unter Stalin im russischen Gulag lebten, meist nicht, weil sie selbst mit dem Regime in Konflikt geraten waren, sondern ihre Männer. An einem der Ausstellungstage wird es eine Brief-Aktion geben, bei der die Gäste an aktuelle politische Häftlinge in russischen Gefängnissen schreiben können, deren Anzahl seit dem Krieg gegen die Ukraine enorm zugenommen hat. Die Briefe werden vor Ort übersetzt und den Inhaftierten anschließend zugestellt.

Beruf oder Berufung

Der Künstler Stefano Loiacono zeigt Textilcollagen aus bedruckten und bemalten Stoffen. In seiner konsumkritischen Fashion-Show tragen Künstler:innen ihre eigenen Kunstwerke. Josephine Riemann, die früher mal Biologielehrerin war, zeigt interaktive Porträts in der Toilette.

Ihr Ziel sei es, Leerstand zu verringern und gleichzeitig sozialen Nutzen für die Gesellschaft zu schaffen, sagt Gegenfurtner. Culterim querfinanziert die Non-Profit-Vermietungen unter anderem durch Einkünfte aus einer Galerie, die sie im kommerziellen Strang des Unternehmens betreiben. Über einen gemeinnützigen Verein organisiert Culterim auch Artist-in-Residence-Programme in leerstehenden Immobilien, derzeit etwa am Kaiserdamm in Charlottenburg, in Biesenthal und Dahlewitz. „Wir kooperieren nicht mit Firmen, die mit „Art Washing“ nur ihr eigenes Image aufpolieren wollen.“ Werben darf der Immobilieneigentümer am Gesundbrunnen also nicht mit der Kunst oder der kulturellen Nutzung. So ist es hoffentlich für alle eine Win-Win-Situation. Ein Besuch lohnt in jedem Fall.