Gehen jetzt bald die Lichter aus? Mitten im hellsten Sommer fragt sich Berlin, wieviel öffentliche Beleuchtung die Stadt sich noch leisten kann. Im Kampf gegen Putin, steigende Energiepreise und den Klimawandel zählt plötzlich jede Kilowattstunde. Dabei wäre der Einspareffekt gering, würde nachts für ein paar Stunden die Beleuchtung am Brandenburger Tor und anderen Highlights ausgeknipst. Die komplette Straßenbeleuchtung Deutschlands nimmt weniger als ein Prozent des Stromverbrauchs in Anspruch.

Um Kosten zu sparen, wird landauf, landab schon seit Jahren auf effizientere Lichtquellen umgerüstet, auch in Berlin. Laternen nach Mitternacht abzuschalten, wenn sich kein Mensch auf der Straße blicken lässt, ist in anderen Gemeinden Usus. Aber Berlin ist halt nicht Holzhausen. Die Nacht zum Tag zu machen, gehört zum urbanen Lebensstil und Selbstverständnis. Eine nächtliche Lichtpause kratzt am Selbstverständnis der Metropole, am Mythos Berlins als Stadt, die niemals schläft. So gering der ökonomische Effekt eines Runterdimmens wäre, so groß wäre die symbolische Tragweite.

Denn die künstliche Beleuchtung und die Entwicklung Berlins zur Großstadt sind historisch eng verflochten. Bis ins Zeitalter der Aufklärung traute sich das Stadtvolk nachts kaum auf die unbeleuchteten, schlecht befestigten Straßen hinaus. 1679 gab der Große Kurfürst den Befehl, an jedem dritten Haus nachts eine Laterne aufzuhängen. Drei Jahre später wurden Laternenpfähle aufgestellt. In Vollmondnächten und den Sommermonaten aber sparte man sich das Anzünden der Öllampen. Noch 1783 staunte der Berliner Aufklärer Friedrich Nicolai, dass die Stadt Wien sich anders als seine Vaterstadt den Luxus gönnte, die Straßen das ganze Jahr hindurch zu beleuchten.

Während in den Bürgerwohnungen des 18. Jahrhunderts Talglichter, Kienspäne und Kaminfeuer funzelten, leistete sich die adlige Oberschicht teure Wachskerzen. In der 1742 eröffneten Lindenoper, einem Prestigeprojekt Friedrichs des Großen, sollen an einem Abend 3000 Pfund davon verbraucht worden sein. Eine verschwenderische Demonstration des unbedingten Willens, Berlin zu einer Kulturmetropole von europäischem Rang machen, und von königlicher Macht.

1826 wurden die Ölfunzeln vor der Oper durch erste Gaslaternen ersetzt. Ein englisches Start- Up baute auf eigenes Risiko eine „Gas-Erleuchtungs-Anstalt“ am heutigen Urbanhafen und verlegte ein Rohrnetz zu den Sehenswürdigkeiten. Das gefiel nicht allen: Die Angleichung von Tag und Nacht wurde als Eingriff in die Ordnung Gottes verteufelt. Nachtspaziergänge seien gefährlich für die Gesundheit, so die Warnungen, sittenwidrigen Ausschweifungen und Kriminalität würden zunehmen.

Doch der Siegeszug des Gaslichts und des Berliner Nachtlebens war nicht zu stoppen. Auf dem Höhepunkt der Gasbeleuchtung, vor dem Zweiten Weltkrieg, gab es 88 000 Gaslaternen in Berlin. Derzeit sind immer noch 23 000 in Betrieb. Bis weit in die Nachkriegszeit behauptete sich das Gasglühlicht als preiswerte Alternative zur elektrischen Straßenbeleuchtung. Mittlerweile ist das anders, der wartungsintenisve Betrieb der gemütlichen Gaskandelaber kostet deutlich mehr als Elektroleuchten, auch ohne Putin-Effekt.

Elektrische Bogenlampen wurden ab 1882 an zentralen Straßen, Plätzen und Brücken installiert. Die boomende Elektroindustrie nutzte Berlin als Versuchsfeld. Dabei konkurrierte die Stadt mit Lichtmetropolen wie Paris und London. Die Bogenlampen wurden meist auf Kandelabern in großer Höhe installiert, da sie ein extrem grelles Licht abstrahlten. Hinzu kam ab der Jahrhundertwende die elektrische Beleuchtung von Läden, Warenhäusern, Reklameschildern.

Die illuminierten Verkehrsknotenpunkte, Flanier- und Vergnügungsstraßen galten bald als Hauptsehenswürdigkeiten des modernen Berlin. So empfahl 1913 der Reiseführer „Berlin für Kenner“, abends am Potsdamer Platz in einen Bus zu steigen: „Das Bild der unglaublichen Bewegung in Menschen, Lichtern und Wagen, das sich jetzt dem Auge darbietet, das ist Berlin! Den Höhepunkt hat man, wenn der Omnibus von der Leipziger Straße in die Friedrichstraße einbiegt, und nun die Flut der Beleuchtung in Lichtreklamen, Lampen und Transparenten bis weit zum Bahnhof Friedrichstraße hin mit der wogenden Menschenmasse lebendig wird.“

Das künstliche Licht inspirierte Maler und Dichter, es wurde zum Schlüsselmotiv moderner Großstadtkunst. „O diese Bukette von Lichtblumen! Nichts mehr von Häusern; man sieht keine scheußlichen Fassaden – oder man wird ihrer nicht mehr inne. Die Straße ist aus lauter Glühbirnen gemacht; sie ist daraus gewoben; sie sind die Substanz der Straße“, beschrieb 1928 der Kunstschriftsteller Wilhelm Hausenstein die Faszination des neuen Stadtbildes. Auch am Kurfürstendamm verschwand die Architektur der Kaiserzeit hinter neusachlichen Lichtarchitekturen und Kinoreklamen. „Die Dächer glühn als lägen sie im Fieber. / Es schlägt der vielgerühmte Puls der Stadt. / Grell sticht Fassadenlicht. Und hoch darüber /Erscheint der Vollmond schlecht rasiert und matt“, besang Mascha Kaléko eine Julinacht an der Gedächtniskirche.

Das „neue Berlin“ der Weimarer Republik setzte sich strahlend in Szene. Ein Höhepunkt war im Oktober 1928 die mehrtägige Aktion „Berlin im Licht“: Sehenswürdigkeiten wurden ab 21 Uhr angestrahlt, 400 Firmen beteiligten sich an einem Schaufensterwettbewerb, es gab Auto- und Motorbootlichtkorsos. Bertolt Brecht und Kurt Weill, soeben durch die „Dreigroschenoper“ zu Starruhm gelangt, steuerten den Partyhit bei: „Und zum Spazierengehen genügt das Sonnenlicht / doch um die Stadt Berlin zu sehn, genügt die Sonne nicht. / Das ist kein lauschiges Plätzchen, das ist ne ziemliche Stadt, / damit man da alles gut sehen kann, da braucht man schon einige Watt. / Ja wat denn? Ja wat denn? /Wat ist dat für ne Stadt denn?“

Tatsächlich erlebbar war dieses gleißende Berlin nur auf kleinen Lichtinseln im düsterer wirkenden Häusermeer. Aber die Bilder der leuchtenden Stadt wurden unendlich oft medial reproduziert – in Illustrierten, auf Postkarten, im Film, in Gemälden, in der Literatur. Bis heute prägen sie die Vorstellung, wie eine Metropole, wie Berlin auszusehen hat.

Die Nationalsozialisten demonstrierten mit Fackelmärschen und Lichtdomen ihre Macht; bald kamen Befehle zur nächtlichen Verdunklung, und gespenstische Phosphorbomben fielen auf die Stadt. Als Brecht 1948 ins kaputte Berlin zurückkehrte und in der Adlon-Ruine logierte, notierte er ungläubig: „Das Licht ist so schwach, dass der Gestirnhimmel wieder von der Straße sichtbar geworden ist“.

Seither lässt Berlin nichts unversucht, „Berlin im Licht“ zum Normalzustand zu machen. Mit verschwenderischer Dauerbeleuchtung, wo immer möglich, mit Leuchtreklame in ödesten Nebenstraßen, mit taghell erleuchteten Stadtautobahnen, mit leuchtenden Werbedisplays an menschenleeren BVG-Haltestellen, mit dem jährlichen Festival of Lights. Inzwischen wirken selbst die Passant:innen wie wimmelnde Leuchtkäfer, die mit ihren Handydisplays für lustige Effekte sorgen.

Doch die künstliche Helligkeit hatte schon immer ihre schmutzige Kehrseite. Makellos sauber wirkt das künstliche Licht nur, solange ausgeblendet bleibt, wie es erzeugt wird. Für die flächendeckende Gasbeleuchtung mussten riesige Dreckschleudern an die Peripherie gebaut werden. Das übelriechende Stadtgas wurde aus Kohle raffiniert und in Gasometern gespeichert. Wo das Gas aus den Leitungen austrat, vergiftete es den Boden. Die Primärenergie stammte aus dem Dunkel ferner Bergwerke und die landschaftszerstörenden Tagebauen. Für die Elektrifizierung der Stadt waren Großkraftwerke notwendig. Während die Berliner Straßen immer heller leuchteten, verfinsterte sich der Himmel durch die Abgase der Industrie.

Daher bemühte man sich nach dem Zweiten Weltkrieg, den Energiehunger durch Öl, Erdgas und Kernernergie zu stillen. Diese emissionsärmeren Energiequellen schienen sauber zu sein, weil der Mensch Kohlendioxid nicht riechen kann und ihm auch für Radioaktivität ein Sinnesorgan fehlt. Zudem wurden in der globalen Wirtschaft die Lieferketten für Strom, Licht und Wärme immer undurchsichtiger. Jetzt zahlen wir die Zeche für die Illusion, die Verschwendung von Ressourcen werde nichts kosten.

Die schönen Bilder einer unaufhörlich leuchtenden Stadt sind Verheißungen des fossilen Zeitalters, das an sein Ende gekommen ist. Machen wir uns nichts vor: In Zukunft werden in Berlin mehr Menschen mit weniger Ressourcen friedlich auskommen müssen. Wälder von Windrädern und angeblich grüne Industrien weit außerhalb der Stadt zu errichten, ohne den eigenen Konsum zu hinterfragen, das entspräche nur der alten kapitalistischen Wachstumslogik. Warum also nicht bei der permanenten Festbeleuchtung mit dem Sparen anfangen? Es wäre ein Signal an die Stadtgesellschaft, dass die Party nicht einfach so weitergeht.