Herr Nagel, der Lockerungsdruck auf die Politik wächst, gleichzeitig fürchten viele Verantwortliche zu schnelle Öffnungen. Steckt die Politik in einem Dilemma?

Wir als Gesellschaft insgesamt befinden uns in einer schwierigen Situation. Wir treten jetzt in eine neue Phase der Pandemie ein. Durch Impfungen und eine Vielzahl von überstandenen Infektionen hat ein erheblicher Teil der Bevölkerung eine respektable Resilienz gegen Corona entwickelt. Die Einschränkungen, mit denen wir leben, müssen jetzt Schritt für Schritt zurückgefahren werden. Doch in der Gesellschaft herrscht nach zwei Jahren Pandemie eine große Ermüdung und unveränderte Verunsicherung.

Wie äußert sich das?

Wir haben eine Kultur entwickelt, in der wir mit den Infektionszahlen und Todesfällen in den Nachrichten unseren Tag beginnen. Wissenschaftler, auch Politiker haben oft gesagt: Wenn wir das Infektionsgeschehen jetzt nicht schnell eindämmen, bekommen wir gefährlich höhere Zahlen. Das erzeugt Angst – wir leben in einer Drohkulisse. Damit sollte ein vorsichtiges Verhalten erzeugt werden. Mittlerweile ist aber eine Abstumpfung eingetreten. Selbst 250 000 Neuinfektionen am Tag werden einfach achselzuckend hingenommen – zumal die Auswirkungen nicht mehr so gravierend erscheinen. Wir erleben eine Verschiebung in der öffentlichen Meinung.

Es gab sogar Empörung darüber, dass Karl Lauterbach vor bis zu 500 Toten am Tag gewarnt hat, falls wir einen Weg der Lockerung wie Israel gehen.

Grundsätzlich halte ich eine Kommunikationsstrategie für kontraproduktiv, die Angst erzeugt. Zielführender ist es, den Menschen Mut zu machen und an ihre Eigenverantwortung zu appellieren. Für die Pandemie heißt das, es reicht, klar zu machen: Wir haben es hier mit einem gefährlichen Virus zu tun. Es reicht, wenn die Menschen Respekt davor entwickeln. Angst ist kein Motivator. Mit Angst fällt differenziertes Nachdenken extrem schwer – und obendrein schwächt Angst unsere Immunantwort.

Wie stellen Sie sich denn den Umgang mit dieser neuen Phase der Pandemie vor?

Allen sollte klar sein: Es wird nicht mehr wie früher. Wir können nicht in den November 2019 zurück. Sondern wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben. Nicht, indem wir alle Realitäten ausblenden, so wie der britische Premier Boris Johnson das tut. Unser Orientierungsmaßstab muss weiterhin sein, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. Dabei sind jetzt aber weniger die Vorgaben der Regierung entscheidend, sondern vielmehr das Verhalten jedes einzelnen. Es muss jedem klar sein, dass jemand, der sich erkältet fühlt, nicht ins Büro oder in die Öffentlichkeit geht oder ohne Mund-Nase-Schutz U-Bahn fährt. Aber das sollte aus Einsicht und Vernunft geschehen und nicht aufgrund staatlicher Vorgaben.

Das hieße einerseits, dass man mehr denn je auf die Vernunft seiner Mitmenschen angewiesen ist. Andererseits aber auch, dass Corona zum individuellen Lebensrisiko für jeden einzelnen wird.

Eine aufgeklärte, demokratische Gesellschaft muss dahin kommen. Es muss im Rahmen der Freiheit gelingen, Verantwortung zu übernehmen und zugleich mit Risiken umzugehen. Wir haben sachgerechte Verhaltensweisen gelernt. Wir haben Impfungen entwickelt. Wir werden bald durch Medikamente noch verbesserte Behandlungsmöglichkeiten der Krankheit haben. Und richtig: Corona wird noch mehr zum persönlichen Risiko werden.

Gerade Menschen aus Risikogruppen könnten das als grausam empfinden. Andere werden sagen: Wir können doch Hunderte Tote am Tag nicht einfach so hinnehmen. Und es gibt ja auch noch die Gefahr von Long Covid. Müssten wir uns in dieser neuen Phase der Pandemie nicht einmal grundsätzlich über die Frage verständigen: Wie viel Risiko sind wir als Gesellschaft bereit zu ertragen?

Das wäre, ehrlich gesagt, eine erstaunliche Debatte. Über solche Fragen haben wir uns in der Vergangenheit nämlich nie verständigt, beispielsweise was die großen Volkskrankheiten betrifft. Herzkreislauf-Erkrankungen bringen eine hohe Krankheitslast und Sterbewahrscheinlichkeit mit sich und werden oft durch ungesundes Verhalten wie falsche Ernährung und zu wenig Bewegung wesentlich befördert. Trotzdem kann ich mich nicht entsinnen, dass irgendjemand gefordert hätte, da einzugreifen und zum Beispiel bestimmte Lebensmittel zu verbieten. Am ehesten noch wird beim Rauchen eingegriffen, weil es eine sehr eindeutige Ursache beispielsweise für Lungenkrebs und andere schwere Erkrankungen ist. Ansonsten wird meist auf die Eigenverantwortung verwiesen.

Lässt sich das vergleichen? Es ist doch ein Unterschied, ob ich mich durch schlechte Ernährung selbst schädige oder als Corona-Infizierter andere in Gefahr bringe.

Wenn unser Ziel ist, die Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden, dann ist der Unterschied nicht wirklich groß. Auf den Intensivstationen werden überwiegend Patientinnen und Patienten behandelt, die unter sogenannten Volkskrankheiten leiden. Soweit diese durch mangelnde Prävention bedingt werden belastet dies unmittelbar auch die Allgemeinheit. Und wenn wir uns den bisherigen Umgang mit Infektionserkrankungen anschauen, setzen wir im Prinzip ebenfalls auf Eigenverantwortung.

Haben Sie ein Beispiel?

Vor einigen Jahren bin ich mit dem Versuch gescheitert als Leiter der Klinik anzuordnen, dass sich die Mitarbeitenden auf der Intensivstation gegen Influenza impfen lassen müssen. Das hat das Arbeitsgericht verworfen, obwohl auch die Grippe für Menschen mit einem schwachen Immunsystem lebensgefährlich sein kann. Aber rechtlich war die körperliche Unversehrtheit und die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen viel höher angesiedelt wie das mögliche Risiko für Patienten. Da haben wir bisher also ganz anders argumentiert als bei Corona. Alle Entwicklungen in den zurückliegenden Jahrzehnten stärken der Selbstbestimmung den Rücken, selbst wenn gesundheitliche Schäden damit in Kauf genommen werden.

Da stellt sich natürlich die Frage, wie Sie zur Impfpflicht stehen. Ist die denn dann nötig oder würden Sie auch hier auf Eigenverantwortung setzen?

Es ist eine fantastische Leistung der Wissenschaft, dass funktionsfähige Impfstoffe gegen Sars-CoV-2 so schnell entwickelt werden konnten. Aber wir nehmen durchaus mit einer gewissen Enttäuschung zur Kenntnis, dass der Verlauf einer Infektion sich zwar deutlich verbessert nach einer Impfung, nicht aber generell eine Infektion oder eine Infektionsübertragung vermieden werden kann und voraussichtlich immer wieder „geboostert“ werden muss. In dieser Situation kommt es prinzipiell auf die Eigenverantwortung an: Ich plädiere für eine allgemeine Pflicht zur ärztlichen Beratung, aber für eine verpflichtende Impfung nur für bestimmte Berufsgruppen ohne jedoch Berufsverbote damit zu verbinden. Dezidiert bin ich gegen jede Form der Altersdiskriminierung.

Die Fragen stellte Maria Fiedler.

Eckhard Nagel (61) ist Professor für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften an der Uni Bayreuth und war bis 2016 Mitglied des Ethikrats. Er ist Doktor der Philosophie. Foto: Universität Bayreuth