Herr Krastev, der russische Angriffskrieg auf die Ukraine dauert nun schon mehr als 17 Monate. Gehen Sie davon aus, dass er auch im kommenden Winter weitergeht?

Ja. Es wird immer deutlicher, dass wir es mit einem langen Krieg zu tun haben. Eines zeichnet sich in jedem Fall ab: Vor den Präsidentschaftswahlen in den USA im kommenden Jahr wird es keine substanziellen Friedensverhandlungen geben.

Das müssen Sie erklären.

Die US-Präsidentschaftswahlen könnten die Dinge ganz entscheidend verändern. Donald Trump wird als Kandidat der Republikaner antreten. Er verfolgt die Strategie, dass ein schneller Friedensschluss für die Ukraine die beste Lösung darstellt, selbst wenn dies mit hohen politischen Kosten verbunden wäre. Deshalb komme ich zu dem Schluss: Die Situation wird sich vor den US-Präsidentschaftswahlen nicht grundlegend ändern.

Aber die militärische Lage könnte sich bis dahin ändern. Wäre es ein entscheidender Schlag für die Machtposition des russischen Präsidenten Putin, wenn es der Ukraine gelänge, die Krim zurückzuerobern?

Natürlich hat Russland auf der Krim-Halbinsel militärisch eine offene Flanke. Es ist aber inzwischen unwahrscheinlich, dass die Gegenoffensive der Ukraine zu einer militärischen Niederlage Russlands und damit zu einem Ende des Krieges führen wird. Der Krieg kann nicht auf dem Schlachtfeld enden – weder durch einen Sieg Russlands noch der Ukraine. Trotzdem wird die Nachkriegsordnung zu einem großen Maße davon abhängen, wie viel Territorium die Ukraine noch zurückerobern kann.

Was ist in den nächsten Monaten zu erwarten?

Es wird eine weitere militärische Eskalation geben, aber keine kriegsentscheidende. Ich befürchte, dass Moskau vor den russischen Präsidentschaftswahlen im März 2024 die Angriffe verstärken wird. Putin will vor der Wahl in der Lage sein, die Kontrolle über jene Gebiete zu verkünden, die von der russischen Regierung als Bestandteil der Russischen Föderation proklamiert wurden – darunter Luhansk, Donezk und Cherson. Ich habe überhaupt keinen Zweifel, dass Putin bei den Präsidentschaftswahlen antreten wird. Er wird mit einer Mehrheit von über 80 Prozent wiedergewählt werden.

Wie steht es um Putins Machtbasis in seiner unmittelbaren Entourage? Schwindet der Rückhalt des Kremlchefs?

Es gibt nur sehr spärliche Informationen darüber. Es gleicht einem Science-Fiction-Roman, wenn man etwas über Putins Inner Circle zu schreiben versucht. Eines ist aber auffällig: Obwohl Putin als äußerst rachsüchtig gilt, hat er nach dem Wagner-Aufstand auf eine Säuberungsaktion verzichtet. Warum? Weil aus russischer Sicht die Konsolidierung der politischen Elite oberste Priorität hat. Für Putin ist es derzeit wichtiger, Stabilität zu erhalten und Leute wie Verteidigungsminister Sergei Schoigu im Amt zu belassen – selbst um den Preis, dass im Krieg auf russischer Seite noch mehr Soldaten getötet werden, als dies ohnehin schon der Fall ist.

Welche Rolle spielen die Nationalisten im innersten russischen Machtzirkel?

Die liberalen Kräfte in Russland, die inzwischen völlig mundtot gemacht worden sind, haben Putin vorgeworfen, den Krieg überhaupt angefangen zu haben. Die radikalen Nationalisten, die mittlerweile als einzige treibende Kraft übriggeblieben sind, kritisieren ihn, weil er den Krieg nicht gewinnt. Diese Kräfte sind inzwischen aber ebenfalls ins Visier Putins geraten. Das hat im Juli die Verhaftung des Ultranationalisten Igor Girkin gezeigt. Er hatte ein noch härteres militärisches Vorgehen in der Ukraine gefordert.

Also hat Putin derzeit nichts zu befürchten?

Danach sieht es aus. Der Krieg soll in der russischen Öffentlichkeit als Normalität erscheinen. Darauf läuft seine Strategie hinaus, Putin stellt zwar keinen Sieg in Aussicht, aber gleichzeitig will er das Szenario einer Niederlage abwenden. Ihm kommt auch zugute, dass Russland inzwischen erfolgreich auf eine Kriegswirtschaft umgestellt hat. Russlands Wirtschaftswachstum geht vor allem auf den Bedarf des militärisch-industriellen Komplexes zurück.

Zeigen scharfe Urteile gegen Regimekritiker wie Alexej Nawalny, wie nervös Putin ist?

Es liegt leider in der DNA der russischen Gesellschaft mit ihrer langen Repressionsgeschichte, dass sie sehr empfänglich ist für Signale der Unterdrückung, die von den Herrschenden ausgehen. Und das Signal unter Putin lautet: Wir werden keinerlei Widerspruch dulden. Das hat sich seit dem Krieg verschärft. Es gibt seitens der Regierung inzwischen null Toleranz, was Kritik angeht.

Was ist für den Kremlchef wichtiger: dem Westen in der Ukraine eine Lektion zu erteilen oder die von Putin geschaffenen mafiösen staatlichen Strukturen mithilfe des Krieges am Leben zu erhalten?

Putins Ziele haben sich geändert. Zu Beginn des Krieges ging es ihm darum, die Ukraine oder zumindest möglichst große Teile des Landes zu kontrollieren. Ich glaube, darum geht es ihm inzwischen nicht mehr. Sein Ziel besteht darin, dass der nicht von Russland beherrschte Teil der Ukraine zu einem „failed state“ wird. Aber auf der Ebene der internationalen Politik strebt Putin immer noch nach einem Sieg. Putin sieht sich in einem Krieg mit der Nato. Er geht davon aus, dass der Westen geschwächt aus der Auseinandersetzung hervorgehen wird.

Was kommt nach Putin?

Der Wagner-Chef JewgeniPrigoschinhat zugegeben, dass die russische Seite gelogen hat, was die Kriegsgründe angeht. Eine solche Äußerung ist nicht zu unterschätzen. Denn unter den radikalen Nationalisten in Russland gibt es natürlich viele unangenehme Figuren. Viele Analysten im Westen beginnen aber zu ahnen: Selbst, wenn der nächste Machthaber in Russland ideologisch noch radikaler als Putin auftreten sollte, würde er den Krieg eher beenden als der jetzige Kremlherrscher.

Sie haben Putins Ziele auf globaler Ebene angesprochen. Im Niger sollen die Putschisten Wagner-Söldner kontaktiert haben. Droht ein neuer Kalter Krieg in Afrika?

Auf den ersten Blick ähnelt die aktuelle Situation der im Kalten Krieg mit seinen Stellvertreterkriegen auf dem afrikanischen Kontinent. Heute ist die Lage aber komplexer. Wahrscheinlich kann Russland von der Einmischung in Afrika profitieren, aber offensichtlich ist China nicht glücklich darüber. Und die meisten Staaten – auch jenseits des afrikanischen Kontinents – wollen sich nicht einfach zwischen dem Westen, China und Russland entscheiden müssen. Länder wie Südafrika, die Türkei oder Brasilien kämpfen um ihre Souveränität. Sie wollen mehrere Optionen haben.

Wodurch unterscheidet sich das Vorgehen Chinas und Russlands auf internationaler Ebene?

China ist nicht unbedingt mehr dem Westen zugeneigt als Russland, verfolgt aber eine andere Strategie: Peking setzt gegenüber dem Westen auf Spaltung. Russland hingegen befindet sich gegenüber dem Westen im Kriegszustand.

Putin weigert sich auch, das Getreideabkommen mit der Ukraine zu verlängern – was nicht ohne Folgen für die EU bleibt.

Die Ausfuhr von Getreide ist für die Ukraine wirtschaftlich genauso entscheidend wie für Russland der Export von Öl und Gas. Durch die Blockade beim Getreideabkommen schafft Russland Spannungen zwischen Kiew und den westlichen Nachbarn der Ukraine. Polnische Landwirte protestierten, weil auf dem Landweg ukrainisches Getreide nach Polen gekommen ist. Derartige Konflikte mit den Verbündeten der Ukraine sind ganz im Sinne Moskaus.

Gehen Sie davon aus, dass in den Gesellschaften der EU-Staaten die Kriegsmüdigkeit umso mehr zunehmen wird, je länger der Krieg dauert?

Die Kriegsmüdigkeit wird zunehmen, und zwar aus mehreren Gründen. Demokratien sind in der Regel gut darin, ihre jeweiligen Bevölkerungen für die Verteidigung ihres eigenen Territoriums zu mobilisieren. Bisher waren sie aber nicht gut darin, militärische Unterstützung bei Kriegen in anderen Staaten zu leisten. Erst im vergangenen Herbst dämmerte es den meisten Leuten in der EU, dass die Ukraine diesen Krieg tatsächlich gewinnen kann, selbst wenn dabei nicht das gesamte Territorium zurückerobert wird.
Es ist anzunehmen, dass die Rufe nach einer Friedenslösung nun aber immer lauter werden, wenn sich zeigt, dass die jetzige ukrainische Gegenoffensive nicht wirklich vorankommt. Die entscheidende Frage wird sein: Wie vehement werden solche Forderungen nach einer Friedenslösung in der Öffentlichkeit vorgetragen und wie viel Gehör werden die Regierungen in der EU ihnen schenken?

Und wie lautet dabei Ihre Prognose?

Selbst wenn sich die Stimmung in den EU-Staaten gegen eine weitergehende Unterstützung der Ukraine wenden sollte, wird das nicht unbedingt den bisherigen Kurs der Regierungen in den EU-Staaten ändern. Man kann nicht hinter dem Rücken der Ukrainer über eine Friedenslösung verhandeln. Schließlich sind es nicht die Bürger in den EU-Staaten, die in diesem Krieg als Soldaten eingesetzt werden. Aber die Sichtweise auf diesen Krieg ist in der EU sehr unterschiedlich. Für die baltischen Staaten und Polen stellt er eine existenzielle Bedrohung dar. Es kann daher die gesamte EU auf ganz dramatische Weise spalten, wenn eine mögliche europäische Friedensinitiative nicht von sämtlichen EU-Staaten gleichermaßen unterstützt würde.

Welches Spaltungspotenzial geht innerhalb der EU von Rechtsextremen wie der AfD oder von Postfaschisten wie Italiens „Fratelli d’Italia“ aus?

Es ist paradox: Dieser Krieg ist einerseits der Moment der EU, was sich etwa bei der gemeinsamen Verhängung der Sanktionen gegen Russland gezeigt hat. Andererseits ist dieser Krieg in vielen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft auch der Moment der Nationalisten. Einige von ihnen sind eher auf Pro-Moskau-Kurs, etwa die AfD. Das ist aber nicht zwangsläufig überall der Fall. In Italien war die Rechte in der Vergangenheit sehr russlandfreundlich. Ministerpräsidentin Giorgia Meloni hat sich jedoch deutlich auf die Seite der Ukraine gestellt. Hier kommt wiederum die europäische Dimension ins Spiel: Im Europaparlament gehören die Abgeordneten der „Fratelli d’Italia“ derselben Fraktion an wie die Vertreter von Polens Regierungspartei PiS – die bekanntlich eine militärische Unterstützung Kiews befürwortet.

Putin kann sich also nicht mal mehr auf die Ultrarechten in Europa verlassen?

Nein. Der Krieg hat die extreme Rechte in der EU nicht zusammengeführt, sondern gespalten. Putin hat in Europa nicht mehr viele Freunde.