Herr Kretschmann, das Jahr 2022 haben Sie mit dem Begriff „Zeitenbruch“ beschrieben. Welches Wort fällt Ihnen für 2023 ein?
Der Begriff Zeitenbruch hat sich nochmals verstärkt. Durch den Angriff der Hamas auf Israel erleben wir nach dem Angriffskrieg gegen die Ukraine eine weitere Eskalation der Gewalt, die die Welt in Atem hält. Wir haben immer den Eindruck, dass nun die Spitze der Aggression erreicht ist, in Wirklichkeit erleben wir aber eher einen Flächenbrand. Wenn ich mir dazu die Reden von Donald Trump anhöre, wird mir manchmal angst und bange. Der Bruch ist nichts Momentanes, die Unordnung nimmt zu, die Welt gerät aus den Fugen.

Verzweifeln Sie daran manchmal?
Mit einem Führungsamt in der Demokratie darf man nie verzweifeln. Ich habe aber einen Moment der eigenen Fassungslosigkeit erlebt, als ich kürzlich ein Gespräch mit jungen Juden hatte. Sie erzählten mir von ihrem Alltag, den vielen Anfeindungen und haben mit den Tränen gekämpft. Selbst in Deutschland, mit den Erfahrungen des Zivilisationsbruchs, schaffen wir es nicht, die Pest des Antisemitismus wegzubekommen. In diesem Gespräch habe ich in mir Verzweiflung gespürt.

Ordnet sich in den Krisen das Verhältnis zwischen Staat und Bürger neu?
Es ist eine ständige Aufgabe, das magische Dreieck zwischen Staat, Markt und Bürgergesellschaft immer wieder neu zu ordnen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zwingt die Bundesregierung nun förmlich dazu, etwa durch die Erhöhung des CO₂-Preises. Ein Instrument, das ich 2019 als Verhandlungsführer der Länder dem damaligen Finanzminister Olaf Scholz abgerungen habe.

Ich finde es richtig, dass die Ampel nun auf den Erhöhungspfad von damals zurückkehrt und stärker auf die marktwirtschaftlichen Prozesse setzt. Damit stärken wir die Innovationskraft der Marktwirtschaft und arbeiten mit klaren Preissignalen.

Für die Bürgerinnen und Bürger folgen jetzt erst einmal Belastungen. Verspricht der Kanzler also zu viel, wenn er sagt: „You never walk alone?“
Ich bin kein Befürworter solcher Sprüche, dass der Staat vollumfänglich hilft. Wenn Scholz von Bazooka, Doppelwumms und solchem Zeugs spricht, bin ich nicht bei ihm. Das ist ein seltsam bevormundendes Staatsverständnis, das den Bürger zu reinenKonsumenten öffentlicher Versorgungsleistungen macht. Schon bei Corona haben wir gemerkt, dass das Anspruchsdenken zu sehr in die Höhe geschossen ist.Das müssen wir wieder neu justieren.

Aber sind ständig steigende Kosten nicht ein Konjunkturprogramm für die AfD?
Ehrlichkeit ist auf Dauer immer das Richtige in der Politik, man muss den Leuten reinen Wein einschenken. Wir müssen natürlich Strukturbrüche vermeiden, aber der gefährlichste Hebel für Rechtspopulisten ist ein Staat, der nicht handlungsfähig ist. Alles andere führt nur zu kurzfristigen Geländegewinnen.

Sie loben die Erhöhung des CO₂-Preises, doch schafft sich wegen einer Erhöhung der Spritpreise von fünf Cent wirklich jemand seinen Verbrenner ab oder sorgt das nur für Frust über Klimaschutz?
Die CO₂-Bepreisung ist ein Pfad, der Planbarkeit und Berechenbarkeit in die Wirtschaft bringt. Das ist das Entscheidende. Durch einen solchen Pfad machen sich alle auf den Weg, um innovativ und damit wettbewerbsfähig zu werden. Nur dann ist die Wertschöpfung da, um mit dem Klimageld auch perspektivisch die Belastungen des CO₂-Preises auszugleichen, da arbeitet die Ampel ja gerade an einem Auszahlungsmechanismus.

Sie argumentieren mit der Brille der Unternehmer. Sind nicht viele Bürger eher wie ein Frosch im Wasser? Jedes Jahr wird das Wasser heißer, bis es irgendwann viel zu heiß ist.
Viel zu heiß wird die Erde. Das ist ebenfalls ein schleichender Vorgang, darum ist er so gefährlich. Dann tritt schnell der Mechanismus ein, dass Menschen mehr Angst vor teurerem Heizöl oder steigenden Benzinpreisen haben als vor den unbezahlbaren Kosten des Klimawandels.

Im Ahrtal sehen wir, dass ein einziges schlimmes Schadensereignis wie die Flut 2021 30 Milliarden Euro kostet. In Zukunft werden wir häufiger solche Rechnungen bekommen, wenn wir nicht reagieren. Deshalb müssen wir der Bevölkerung immer wieder klarmachen, dass es Klimaschutz nicht ohne Zumutungen gibt. Am Ende gibt es aber mehr zu gewinnen als zu verlieren. Denn umgekehrt gilt: Ohne Klimaschutz werden die Zumutungen für alle drastisch ausfallen.

Man hätte den höheren CO₂-Preis verhindern können, wenn die Ampel bereit gewesen wäre, für das Haushaltsjahr 2024 erneut die Notlage auszurufen. War es die richtige Entscheidung, es nicht zu tun?
Es ist gut, dass man sich geeinigt hat. Wenn die Ampel lernt, dass es besser ist, sich zu einigen als öffentlich rumzustreiten, ist schon viel gewonnen. Es muss aber auch handwerklich sauber gemacht sein. Ich verstehe, dass man die Notlage jetzt nicht ausruft.

Weshalb?
Wenn man dermaßen auf der Schmierseife ausgerutscht ist, dann ist man natürlich vorsichtig, dass man nicht nochmal ausrutscht. Es war Christian Lindner, der darauf bestanden hat, dass das 100-Milliarden-Euro-Paket für die Bundeswehr verfassungsrechtlich abgesichert wird. Er ahnte also, dass das notwendig wird. Umso erstaunter muss man sein, warum der Finanzminister das für die anderen Posten, vor allem beim Klima- und Transformationsfonds, nicht gemacht hat.

Er trägt die Verantwortung dafür, dass die Ampel in diese Situation gekommen ist. Man muss kein verfassungsrechtlicher Experte sein, um zu erkennen, dass man Corona-Gelder nicht einfach umwidmen kann. Wir haben sie in Baden-Württemberg einfach zurückgezahlt.

Welche langfristigen Lehren ziehen Sie aus dem Urteil mit Blick auf die Schuldenbremse?
Für den Erfolg der Transformation müssen wir jetzt in ein Jahrzehnt der Investitionen kommen. Nehmen wir als Beispiel das Wasserstoffnetz. Grünen Wasserstoff gibt es in relevantem Maß noch gar nicht, das heißt der Bau der Netze wird erst einmal nicht refinanziert. Wir dürfen diese Ausgaben nicht allein der jetzigen Generation aufladen.

Es geht nicht darum, dass wir unseren starken Sozialstaat immer weiter ausbauen, sondern um den Bau von elementarer Infrastruktur, um die Transformation hin zu einer klimaneutralen Gesellschaft zeitnah zu schaffen. In diesem engen Rahmen müssen wir die Regeln der Schuldenbremse debattieren. Der richtige Ort für so einen Prozess wäre die Föderalismuskommission Drei.

Die Föderalismuskommission II, die die Aufgaben zwischen Bund und Ländern neu geordnet hat, hat 2009 auch die Schuldenbremse für das Grundgesetz neu erarbeitet.
Das war damals überfällig, so wie wir jetzt wieder gemeinsam mit der Wissenschaft debattieren müssen. Der Bundeskanzler will eine solche Kommission nicht, aber wir brauchen sie. Denn ohne die Union kann man die Schuldenbremse nicht reformieren. Man kann jetzt Parteitagsreden bei Grünen oder SPD gegen die Schuldenbremse halten, dadurch verändert sich aber nichts. Die Aufgabe ist von so zentraler Bedeutung, dass ein überparteilicher Weg hier unausweichlich ist.

Muss der Staat aber nicht auch das Sparen wieder ernst nehmen?
Das tut er jetzt und das ist auch richtig. Denn wenn die Schulden gemacht sind, steht da nicht mehr drauf, wofür wir sie gemacht haben. Sie sind einfach nur da und belasten mit Zins und Tilgung den Haushalt. Wir sind nicht mehr in einer Phase der Niedrigzinsen. Schulden muss der Staat kaufen, die gibt es nicht umsonst. Das vergessen bei den Grünen und der SPD leider einige. Wir können jetzt nicht alles mit Schulden lösen, wir müssen auch sinnvoll priorisieren und sparen.

Gelingt das der Ampel mit ihrem Kompromiss?
Es ist nicht klug, den Agrardiesel und die Kfz-Steuer für landwirtschaftliche Fahrzeuge auf einen Schlag zu streichen. Es gibt ja keine Alternative zu einem Traktor für einen Bauer. Große Elektro-Traktoren sind noch gar nicht auf dem Markt. Das hat also nichts mit klimaschädlichen Subventionen zu tun, sondern ist die Streichung für mittelständische Unternehmen. Die Bauern arbeiten sowieso schon in einem extrem schwierigen Markt und können durch diese Entscheidung nun in Bedrängnis geraten. Ich habe nicht den Eindruck, dass das wohldurchdacht war.

Wo sollte die Ampel denn stattdessen sparen?
Mein Finanzminister hat neulich darauf hingewiesen, dass solche Dinge wie die Rente mit 63 den Staatshaushalt massiv belasten. Jedes Jahr kostet das den Staat einen zweistelligen Milliardenbetrag, insgesamt machen die Rentenzuschüsse des Bundes fast ein Viertel des Haushalts aus. Das sind Posten, die man sich genau anschauen müsste.

Gerade angesichts des Arbeitskräftemangels sind die Forderungen der Gewerkschaften unrealistisch. Wir können nicht immer weniger arbeiten, bei vollem Lohnausgleich.

Wenn der Klimaschutz mit immer höheren Preisen verbunden wird, müssen Sie dann nicht um die Akzeptanz von Klimaschutzmaßnahmen fürchten, wie wir das schon beim Heizungsgesetz erlebt haben?
Die Internationale Energieagentur geht davon aus, dass etwa die Hälfte der nötigen Treibhausgas-Reduktion von Innovationen abhängt, die heute noch erforscht und entwickelt werden. Ich komme immer wieder auf die Innovationskraft zurück – darauf dürfen wir vertrauen.

Der Ausbau der Erneuerbaren erfordert gigantische Investitionen, aber wir haben dann keine Brennstoffkosten mehr. Die Sonne schickt keine Rechnung. In einer Stunde gibt uns die Sonne mehr Energie, als die Menschheit in einem Jahr braucht. Wir haben also ein lösbares Problem. Das Bruttoinlandsprodukt der Europäischen Union hat sich seit 1990 verdoppelt und die CO₂-Emissionen sind um gut ein Drittel zurückgegangen. Es gibt temporär immer Ausschläge, aber wir sind auf dem richtigen Pfad.

Ist es das, was Ihnen Zuversicht gibt?
Ja, daraus entsteht wirkliche Zuversicht. Vor ein paar Jahren war ich in Niedereschach, einem Dorf im Schwarzwald. Dort haben sie eine Genossenschaft gegründet, die das ganze Dorf umgegraben hat und heute mit Hackschnitzel aus dem Schwarzwald heizt. Es gibt unglaublich viele Beispiele, die zeigen, wenn man etwas anpackt, kann Großes gelingen.

Haben Sie auch Zuversicht, dass es den Grünen gelingt, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen?
Man kann Vertrauen immer zurückgewinnen, aber es ist ein anstrengender Prozess. Wichtig ist, dass wir lernen, die Leute nicht dauernd mit unserer Besserwisserei zu behelligen, sondern unsere Ziele klar zu kommunizieren. Klimaschutz beispielsweise unterstützen die allermeisten Menschen ja. Aber man muss mit ihnen gemeinsam besprechen, wie man dahin kommt. Da braucht es das sogenannte Gegenstrom-Prinzip: Du gehst mit einer Idee rein und von den Leuten kommt was zurück. Das ist das Prinzip der Demokratie, nicht dieses top-down-Gehabe. Wir brauchen Mehrheiten für unsere Politik.

Vergessen das manche in Ihrer Partei?
Ich fürchte schon. Auf unserem Parteitag habe ich erlebt, dass junge Mitglieder Menschenrechtsbekenntnisse in der Migrationspolitik machen. Sie denken, dieses Bekenntnis sei der Abschluss von Politik. In Wirklichkeit fängt Politik da aber erst an. Nach Hannah Arendt entsteht Macht, wenn sich Leute um eine Idee versammeln und handeln. Robert Habeck und Annalena Baerbock sind stark geworden, als sie gesagt haben, dass wir eine Bündnispartei sind. Das erste Bündnis, das man in der Politik schließen muss, ist das mit den Bürgern. Danach wird gewählt und dann braucht es Partner.

Wie sehr beunruhigt es Sie, dass Ihnen die Bündnispartner abhandenkommen?

Es muss uns schon zu denken geben, wenn wir in Berlin mit der SPD und in Hessen mit der CDU keine Koalition mehr hinbekommen. Wir brauchen Kompromisse aus der Mitte. Wir leben nicht in Zeiten, in denen sich die Polarisierung lohnt. Wir sehen in anderen Ländern, wohin es führt, wenn die Mitte nicht mehr koalitionsfähig ist.

Deshalb ist die Hauptgegner-Aussage von Friedrich Merz so abenteuerlich. Viel-Parteien-Koalitionen sind in vielen europäischen Staaten mehr die Regel als die Ausnahme und auch in Ostdeutschland stehen uns da schwierige Aufgaben bevor. Wir brauchen da im demokratischen Spektrum einen lösungsorientierten Pragmatismus.

Dort gibt es im kommenden Jahr drei Landtagswahlen. Wie ist der Vormarsch der Rechten noch zu stoppen?
Indem der Staat handelt, sich als handlungsfähig erweist und handwerklich gute Politik macht. Dafür habe ich drei Ratschläge: Erstens sollte man sich nicht ständig öffentlich streiten. Zweitens muss man nach einer Einigung auch gemeinsam den Kompromiss vertreten. Und drittens brauchen wir praxistaugliche Gesetze, vor allem mit Blick auf die Bürokratie. Es kann nicht sein, dass Schulen ein 16-seitiges Dokument mit Regeln zur EU-Umsatzsteuerpflicht erhalten, wenn sie am Schulfest Kuchen verkaufen wollen. Schluss damit, so etwas können wir uns nicht mehr leisten.

Sie wollen es mit guter Politik versuchen, aber bräuchte es bei der AfD, die drei erwiesen rechtsextreme Landesverbände hat, nicht langsam mal ein Verbotsverfahren?
Parteiverbotsverfahren sind extrem schwierig. Ich habe als Bundesratspräsident schon mal eins gegen die NPD gemacht und verloren. Das ist eine hoch komplizierte Geschichte und bevor wir darauf hoffen, sollten wir die AfD erstmal politisch bekämpfen und dafür sorgen, die Anhänger dieser Partei zurückzugewinnen. Vielleicht ist das auch heilsam: Wir müssen wieder für die Demokratie kämpfen. Wir dürfen das nicht für selbstverständlich ansehen.