Als meine Kinder sehr klein waren, konnten sie mit Spielplätzen nichts anfangen. Die Wackeltiere waren zu hoch für Einjährige. Die Leitern, die zu Rutschen und Klettergerüsten führten, waren zu steil, außerdem standen die Sprossen zu weit auseinander. Es blieb nur der Sand zum Spielen. Viele Familien scheint das jedoch nicht zu stören. Auf jedem Spielplatz kann man Eltern mit Babys oder Kleinkindern beobachten. Die Kleinen sitzen in Babyschaukeln, auf Wippen und Rutschen. Die Eltern stützen sie ab. Ihre Hände halten sie beim Rutschen fest und heben sie auf Spielgeräte hinauf und wieder hinunter: Spielgeräte, die die kleinen Kinder aus eigener Kraft niemals erreichen würden. Bevor ich selbst Kinder hatte, fand ich das normal. Heute denke ich, dass diese Kinder eigentlich gar nicht spielen. Und dass ein Spielplatz nichts ist für ein Kleinkind, das sich ausprobieren, die Welt entdecken und selbstständig werden will.

Von Emmi Pikler hörten wir von der Hebamme zum ersten Mal

Der Sinneswandel setzte bei mir kurz nach der Geburt des ersten Kindes ein. Meine Hebamme erzählte mir damals von Emmi Pikler: einer ungarischen Kinderärztin, die Anfang des 20. Jahrhunderts die Bewegungsentwicklung von Kindern erforscht hatte. Zufällig bot das Familienzentrum in unserer Straße einen Vortrag über Emmi Piklers Erkenntnisse an. Mit unserem kleinen Baby gingen mein Mann und ich hin.

Was die Referentin dort erzählte und wir später noch einmal nachlasen, veränderte unseren Blick auf unser Kind nachhaltig. Es erschien uns so naheliegend und einleuchtend. Trotzdem hatten wir nie zuvor davon gehört.

Die 1902 geborenen Pikler beschreibt in ihren Büchern eine auffallende Diskrepanz: Zwischen dem, was Kinder können und dem, was Erwachsene ihnen zutrauen. Die Berlinerin Andrea von Gosen hat jahrelang Pikler-Spielräume geleitet und Pikler-Pädagogen ausgebildet. „Die Idee, dass ein Baby nicht als leeres Blatt auf die Welt kommt, sondern Fähigkeiten und Vorlieben mitbringt und als Persönlichkeit behandelt werden sollte, war schon zu Piklers Zeiten revolutionär“, erzählt sie.

Anders als viele glauben, sind Babys nicht hilflos

Und sie ist es noch heute. Mir als junger Babymutter war das damals jedenfalls alles völlig neu. In den ersten Lebenswochen hatte ich mein Kind als niedliches, aber hilfloses Wesen wahrgenommen. Nun begann ich, besser hinzuschauen. Ich entdeckte, dass mein Baby fast jeden Tag ganz von allein etwas lernte. Etwa, die Hände vor seinem Gesicht zusammenzuführen. Oder die Füße auf dem Boden abzustellen: Ein erster Schritt, um sich später abstoßen und drehen zu können. Überhaupt erfuhr ich, dass Bewegungsentwicklung aus vielen klitzekleinen Schritten besteht, die Erwachsenen kaum wahrnehmen. Uns Großen geht es meist um große Schritte: Wann kann Emil krabbeln und Charlotte endlich laufen? „Viele Eltern sind ungeduldig und vergleichen ihr Kind mit anderen. Es fehlt ihnen das Vertrauen in seine Entwicklungskraft“, sagt von Gosen. Denn tatsächlich verlaufen laut Pikler zwar die Entwicklungsschritte bei jedem Kind in derselben Reihenfolge. Das Tempo jedoch unterscheide sich stark und es sei völlig normal, wenn das eine Kind schon mit zehn Monaten gehen kann und das andere erst mit zwanzig, schreibt die Kinderärztin.

Ein von den Eltern hingesetztes Baby findet den Rückweg nicht

Viele Eltern wollen so lange nicht warten: Sie bringen ihr Baby in eine Sitzposition, bevor es sich selbst hinsetzen kann oder „lehren“ es das Gehen an den Händen. Andrea von Gosen bezeichnet diese Eingriffe als „sehr ungünstig“. Nicht nur unterbreche der Erwachsene damit eine natürliche Entwicklung. Im Fall des frühzeitigen Hinsetzens bringe er das Kind auch in eine Position, aus der es sich allein nicht wieder befreien kann. „Das hingesetzte Baby ist ausgeliefert und hilflos. Es hat sich den Weg zum Hinsetzen nicht selbst erarbeitet, deshalb kennt es auch den Rückweg nicht“, sagt von Gosen. Zwar fänden viele Babys die Sitzposition toll und genössen den neuen Panoramablick. „Sie haben aber noch nicht die nötige Muskulatur aufgebaut und können im Sitzen weder spielen noch sich bei Erschöpfung wieder hinlegen.“. Dasselbe gelte für das Gehen an den Händen: Es mache Kindern Spaß, halte sie aber davon ab, das zu lernen, was für das freie Laufen wirklich notwendig ist: alleine das Gleichgewicht zu halten.

Mit dem Helfen, so von Gosen, schafften sich Eltern außerdem langfristig ein Problem. Gewöhne man die Kinder an ein künstliches Unterhaltungsprogramm aus Hinsetzen, Durch-die-Wohnung-Tragen und An-den-Händen-Führen, mache man sie abhängig. Nicht nur müsse der Erwachsene dann ständig springen. „Man vergibt sich auch die Chance, dass das Kind mit sich selbst zufrieden ist. Oft erzählen Eltern, ihr Kind verlange, herumgeführt zu werden. Dieses Problem ist jedoch hausgemacht. Erst denken die Eltern, dass das Kind etwas ohne ihre Hilfe nicht schafft. Und dann erwartet das Kind es und fordert es ein.“

Babys sollten kein Spielzeug in die Hand gedrückt bekommen

Babys zu unterhalten und zum Beispiel eine Rassel vor ihrem Gesicht zu schwenken sei vollkommen unnötig, sagt von Gosen. „Ein Baby war neun Monate schwerelos im Mutterleib. Mit der Geburt ist alles anders: Es ist plötzlich hell, das Kind muss nun vieles selbst tun: atmen, verdauen, die Schwerkraft kennenlernen. Alles was es in dieser Zeit braucht, sind Nähe zu den Eltern, viel Ruhe und die Möglichkeit, sich selbst und seine Umgebung kennenzulernen.“ Pikler zufolge sollte man Babys deshalb von Anfang an die Möglichkeit geben, in Ruhe anzukommen und zum Beispiel die eigenen Hände zu betrachten.

Mobiles und Spielketten störten dabei nur. Schon ab der achten Lebenswoche sollte man dem Kind Gelegenheit geben, auf einem abgesicherten Platz am Boden Bewegung zu erproben. Anfangs nur für zehn Minuten. Später kommen dann ein, zwei leichte, weiche Spielzeuge hinzu – immer dieselben – die in Reichweite des Kindes liegen, ihm aber nicht in die Hand gedrückt werden.

Und zwar aus einem einfachen Grund: Kinder sind nicht hilflos. „Sie freuen sich, wenn sie es schaffen, ein Spielzeug aus eigener Kraft zu erreichen“, sagt von Gosen. Dieselbe Selbstwirksamkeit erlebten sie, wenn sie es nach langem Üben schaffen, sich auf den Bauch zu drehen oder hinzusetzen. „Wir Eltern sollten Ihnen diese Möglichkeit nicht nehmen und sie nicht zur Abhängigkeit erziehen.“ Ich fand es faszinierend, zu beobachten, wie meine Kinder all die kleinen Schritte tatsächlich nach und nach vollzogen. Wie sie sich anstrengten, ein Spielzeug zu erreichen, wie glücklich sie wirkten, wenn sie es geschafft hatten und wie konzentriert sie es betrachteten. Einmal wusch ich in der Küche das Geschirr, meine Tochter lag auf ihrem Spielteppich auf dem Küchenboden. Sie konnte sich zu diesem Zeitpunkt bereits auf den Bauch drehen und befühlte 20 Minuten lang die raue Oberfläche der Küchentür, der sie mit ihrer Hand immer wieder einen kleinen Stups gab. In dieser Zeit konnte ich den gesamten Abwasch erledigen und noch etwas kochen.

Die Pikler-Philosophie brachte Ruhe in unseren Alltag, weil ich keine Animateurin meines Kindes war. Natürlich wollten auch meine Kinder wie alle Babys regelmäßig auf meinen Arm, dort kuscheln und stillen. Aber in den Zeiten dazwischen waren sie sich selbst genug. Einmal wöchentlich besuchte ich mit ihnen einen Pikler-Spielraum. Diese Treffen funktionieren völlig anders als andere Spielgruppen: Die Spielraum-Leiterin (es sind tatsächlich fast immer Frauen) bereitet den Raum vor, stellt Spielgeräte wie schräge Ebenen, mit Tüchern gefüllte Eimer und leicht zu erkletternde Dreiecke in die Mitte. Die Eltern sitzen am Rand. Nach und nach entdecken die Kinder selbstständig die Spielsachen, während die Eltern sitzenbleiben, schweigen und zuschauen. Etwaige Konflikte zwischen den Kindern werden von der Spielraumleiterin gelöst.

Allerdings gibt es kaum welche: Nie haben meine Kinder so freudig gespielt wie bei diesen Treffen. Natürlich darf auch mal gelacht und ein Wort ans Kind gerichtet werden, aber es wird weder über die besten Kinderschuhe gequatscht noch hört man die übliche Dauerschleife aus „Super, Finn“ und „Ganz toll, Emma“. Denn beim Piklern wird nicht gelobt, sondern sich höchstens mitgefreut, wenn das Kind Blickkontakt sucht („Du hast es geschafft“).

Wie gut es tat, die Verantwortung einmal abzugeben. Wie schön es war, sich neben dem Alltagsstress die Zeit zu nehmen, das eigene Kind anzuschauen und zu merken, wie es sich von Woche zu Woche verändert. Leider sind Pikler-Spielräume in Berlin sehr beliebt und es gibt lange Wartelisten. Das Warten lohnt sich aber.

Eine klare, persönliche Sprache mit dem Kind sprechen

Erst im Pikler-Spielraum habe ich auch den richtigen Ton gefunden in der Kommunikation mit meinen Kindern. Vorher war ich unsicher: In meinem Bekanntenkreis redeten alle in künstlich hoher Stimme mit Kindern. Sie versuchten, Konflikte mit langatmigen Erklärungen zu lösen – meist erfolglos. Ich fand das schon immer doof, kannte aber keine Alternative.

Die Spielraum-Leiterinnen sprachen in normalem Tonfall mit den Kindern. Kam es zum Streit, beschrieben sie die Situation mit knappen Worten („Du möchtest den Ball und Lena möchte ihn auch“), was verblüffend schnell für Frieden sorgte.

Das, was in guten Erziehungsratgebern in der Theorie stand – eine klare, persönliche Sprache mit dem Kind finden: Erst im Spielraum konnte ich erkennen, was damit gemeint war. Und es nach und nach selbst übernehmen. Die Beziehung zu meinen Kindern hat das geprägt – bis heute.