Herr Hein, an welches Erlebnis in Ihrer Kindheit erinnern Sie sich am liebsten?

An das Zusammenleben mit meinen Geschwistern. Bei einem Weihnachtsfest bekamen wir drei ältesten Brüder ein selbst gebautes Metallauto. Meine Brüder zogen einander an den Haaren wieder raus, ich als Jüngster durfte mich erst Tage danach reinsetzen. Später kam noch unsere kleine Schwester hinzu. Unser Geschwisterverband ist immer noch ein sehr herzlicher.

Einer Ihrer ersten Romane „Horns Ende“ beginnt mit den Worten: „Erinnere dich.“ Die Widmung eines Ihrer letzten Romane, „Verwirrnis“, lautet: „Daran will ich mich später erinnern.“ Schreiben Sie, um selbst nicht zu vergessen oder um nicht vergessen zu werden?

Das Schreiben als Schriftsteller ist ein Arbeiten im Steinbruch der eigenen Biografie. Man arbeitet sich an Felsblöcken ab, gibt ihnen eine eigene Form als Erzählung oder Roman. Für mich ist es immer wichtig, so viel wie möglich aus meinem Leben in ein Buch zu nehmen. So wird es plastischer.

Kann Erinnerung präzise sein?

Es ist ein komplizierter Prozess. Anfangs bekommt man nur einen kleinen Faden in die Hand. Es gibt Szenen im Gedächtnis, von denen wenige Worte haften geblieben sind. Wenn man sich vertieft, entsteht langsam ein Gebilde, das man dann formt.

Also denken Sie sich die Erinnerung nur aus?

Nein. Im Steinbruch lege ich Dialoge frei. Je mehr man darüber nachdenkt, desto mehr fällt einem wieder ein. Das selbst Erlebte wird sinnlich und beim Schreiben lebendig. Ich versuche, möglichst genau Zeugnis abzulegen von den Jahrzehnten, die wir auf dieser Welt verbringen.

Wenn wir später Zeugnis ablegen über die Zeit, in der wir jetzt leben, mit Kriegen, Flüchtlingsströmen, Pandemie und Klimawandel – woran werden wir uns erinnern?

Ich vermute, an den Riss durch die Gesellschaft. Er begann mit dem Streit über die Migration und wird mit jedem neuen Thema tiefer. In Familien und Beziehungen, in Städten und Dörfern, in der Politik geht es immer unversöhnlicher zu. Unversöhnlichkeit ist das Wort unserer Zeit. Der Riss wird sich möglicherweise für Jahrzehnte nicht schließen.

Das klingt pessimistischer, als es selbst die Figuren in Ihren Romanen sagen würden.

Derzeit sehe ich keine Versöhnung in Deutschland. Ich sehe, dass das Trennende sich zementiert.

Bald stehen Wahlen an in Ostdeutschland. Haben Sie Angst?

Nein. Aber die Lage ist sehr verworren. Es könnte schwer werden, eine Regierung gegen die AfD zu bilden, gerade in Sachsen und Thüringen. Die Partei ist trotz ihrer Nazi-Rhetorik zugelassen, ein Verbot ist laut vieler Staatsrechtler chancenlos und wirkt an den Haaren herbeigezogen. Also muss man damit leben und dagegen angehen.

Viele Ostdeutsche sprechen davon, dass es bei der Wahl eine Quittung geben werde. Wofür eigentlich?

Tja. Ostdeutschland fühlt sich noch abgehängt, der Westen dominiert den Osten weiterhin. Fast zwei Drittel der ostdeutschen Bevölkerung wurde nach 1990 dauerhaft oder zeitweise arbeitslos. Das waren schwerste Eingriffe in einem Landesteil, in dem Arbeitslosigkeit zuvor quasi verboten war.

Wie viel DDR steckt noch in Ostdeutschland?

In den älteren Generationen sicherlich viel. Mich erstaunt aber, dass es selbst in jüngsten Generationen einen Ost-West-Trend gibt. In Berlin habe ich getrennte Freundeskreise.

Wie viel Sowjetunion steckt noch in Russland?

Der Zusammenbruch großer Reiche kann Jahrhunderte prägen. Der Zerfall des Römischen Reiches reichte laut Umberto Eco bis ins österreichische Kaiserreich des 19. Jahrhunderts. Das heutige Russland definiert sich über den Verlust der Sowjetunion als Weltmacht. Aus altem Großmachtdenken hat Putin diesen fürchterlichen Krieg gegen die Ukraine begonnen…

… der uns lange beschäftigen wird?

Die Massaker aufzuarbeiten, wird Jahrzehnte dauern. Wann und wie immer dieser Krieg zu Ende geht, in den Köpfen, in der Erinnerung, wird er bleiben.

Für den Frieden in Europa wäre das ein Horrorszenario.

Fast jeder Krieg endet mit Verhandlungen. Aber Verhandlungen mit Russland funktionieren derzeit nicht. Wenn Putin nach der Ukraine andere Länder angreift, kann der Dritte Weltkrieg beginnen. Die Nato ist schon heftig dabei, hilft der Ukraine mit Material, möglicherweise sogar mit Personal. Ein Dritter Weltkrieg dürfte wahrscheinlich das Ende der Menschheit sein. Die vorhandenen Waffen können die Erde fünfmal zerstören.

Haben Sie gar keine Hoffnung? Die Kuba-Krise im Kalten Krieg wurde auch abgewendet. Und wer hätte vorher den Mauerfall für möglich gehalten?

Vielleicht kommen wir noch zur Vernunft. Aber es braucht einen Michail Gorbatschow, der sein Herz in die Hand nimmt für Frieden.

Kurz nach dem Mauerfall haben Sie gesagt, es werde 40 Jahre dauern, bis Ost und West vollständig vereint seien. Das wird langsam knapp, oder?

Ich wurde damals als Pessimist beschimpft. Jetzt wird hinterfragt, ob ich nicht zu optimistisch war. Nach 40 Jahren wird wohl die gefühlte Trennung noch nicht vorbei sein.

Woran liegt das?

Das Verrückte ist, dass viele Unterschiede sehen, obwohl sie sich die Teilung nicht mehr vorstellen können. Eine Großstadt war geteilt – junge Leute können das kaum fassen. Seit Urzeiten sind Gemeinden entstanden, um einen Kern herum. Sie bildeten sich aus der Gemeinsamkeit mit dem Nachbarn und definierten sich über einen Gegner, gegen den man sich abgrenzt, das Nachbardorf. So definiert sich der Osten immer wieder selbst neu.

Sie sollten 2004 Intendant am Deutschen Theater werden, haben nach heftiger öffentlicher Debatte abgesagt. Damals ordneten Sie das als Ost-West-Konflikt ein.

Der Kampf ging im Kern um etwas anderes: Der Regierende Bürgermeister wollte seinen Kultursenator Thomas Flierl loswerden. Weil der mich vorgeschlagen hatte, wurde auf mich eingeprügelt bis in die Stadtverwaltung hinein. Mir wurden nicht mal meine Reisekosten erstattet.

Der Job hätte Sie schon gereizt, oder?

Natürlich. Ich habe viele Jahre Stücke für das Theater geschrieben. Doch ich sollte, ich musste verhindert werden. Man halbierte mein Gehalt, kürzte zweimal heftig die Gelder für das Theater. Ich verlangte, dass mein gekürztes Gehalt dem Theater zugutekomme. Das lehnte man ab, mit den Worten, man sei hier nicht auf dem türkischen Basar. Ich reiste dennoch umher, stellte meine Mannschaft zusammen. Für das erste Jahr konnte ich drei gewichtige Regisseure gewinnen, die für West und Ost bedeutsamen Peter Stein und Benno Besson. Außerdem Woody Allen, den ich über meine New Yorker Verlegerin ansprechen konnte.
Dann brach alles zusammen. Die finanziellen Kürzungen waren zu heftig. Ich lud alle Regisseure in meine Wohnung ein, legte die Karten auf den Tisch und fragte, wer dennoch dabeibleibe. Drei von ihnen sagten: Wenn das Geld da ist, sind wir dabei – angesichts der Finanzlage eine Absage. Andere schlugen vor, verstärkt literarisch-musikalische Programme zu erstellen oder gar ein Bühnenbild für zwei Inszenierungen zu verwenden. Das war für mich das Ende. Bei dem dann ernannten Intendanten waren plötzlich alle Gelder wieder da.

Die Sache tut Ihnen noch weh?

Nun, ich denke, ich habe mich um das Deutsche Theater verdient gemacht, indem ich den vom Senat geplanten Niedergang durch meinen Rücktritt verhinderte. Und ich hoffe, der Senat bezahlt endlich seine Schulden bei mir. Der Vorbereitungshaushalt muss ja nicht so üppig sein wie bei dem vom Senat geliebten Museumsmanager Chris Dercon, dem man die Volksbühne anvertraute. Aber meine Ausgaben möchte ich endlich erstattet bekommen. Der 80. Geburtstag wäre ein gegebener Anlass.

War das damals wirklich eine Ost-West-Debatte?

Ich war der Sack, der geschlagen wurde. Doch der Esel war gemeint. Dann gab es noch den Ost-West-Ärger, aber – zugegeben – nur ein bisschen.

In der Debatte über Ostdeutschland gibt es gegenläufige Tendenzen. Die Historikerin Katja Hoyer bedient ein wohliges DDR-Bild, indem sie das Mitläufertum heroisiert, die Autorin Anne Rabe legt die Gewalt in DDR-Familien bloß. Wie lange sollen sich die Debatten der 90er Jahre wiederholen?

Ich nehme das alles wahr, sehe darin aber nicht unbedingt einen Fortschritt. Ich bin fokussiert auf meine Arbeit.

Sie gucken lieber nach innen?

Ich gucke vor allem zurück. Dieser komische Staat DDR hat auch mein Leben geprägt.

Sie haben mal gesagt: „Die DDR war eine dieser missglückten Träumereien der Menschheitsgeschichte.“ Woran erinnern Sie sich gerne, wenn Sie an die DDR denken?

An meine Kämpfe. Ich war Pfarrerssohn, durfte die Oberschule nicht mehr besuchen, ging nach West-Berlin, kam wieder zurück. Auf der Abendschule wurde ich auch gefeuert. Das kostete sehr viel Kraft. Später dann der Kampf gegen die Zensur.

Sie haben sich durchgeschlängelt.

Dazu gehörte viel Mut. Mein erster Roman erhielt keine Druckgenehmigung, der Leiter des Aufbau Verlags ließ es trotzdem drucken. Nach meinem Welterfolg mit dem Buch „Der fremde Freund“…

…im Westen verlegt unter dem Titel „Drachenblut“…

…zögerte die DDR, bei mir zuzuschlagen. Auch mein Theaterstück „Ritter der Tafelrunde“ sollte nicht gespielt werden. Nur der Intendant in Dresden holte sich eine Probengenehmigung. Es gab eine Sitzung mit den Zensoren, vier aus Dresden, fünf aus Berlin. Dresden sagte: Das muss Berlin entscheiden; Berlin umgekehrt. Sie hatten nicht den Mut, Ja zu sagen, aber nicht die Kraft für ein Nein. Der Intendant war zufrieden: Er setzte Voraufführungen an ohne Premiere. Das war ein Spaß.

Sie waren schon damals wie Stefan Heym oder Christa Wolf im deutsch-deutschen Kanon der Literatur fest angesiedelt. Das hat Sie auch privilegiert, oder?

Das ist sicher richtig. Die Autoren, die international beachtet wurden, hatten eine größere innere Freiheit. Ich merkte das auch im Verlag oder bei Gesprächen mit der Partei. Sie zogen Samthandschuhe an, um mit mir zu boxen.

In der DDR gab es eine doppelte Sprache. Die Menschen haben Bücher zwischen den Zeilen gelesen, um dort Verbotenes zu entdecken. Wie war es, zwischen den Zeilen zu schreiben?

Ich habe das abgelehnt, strebte stets nach Genauigkeit. Diese versteckte Sprache – für mich war es Sklavensprache – fand ich für Literatur unangemessen. Mein künstlerisches Mittel war die Versetzung in eine andere Zeit, „Ritter der Tafelrunde“ spielte im Mittelalter.

Sie schreiben oft auf den Punkt.

Ich habe viel trainiert. Meine ersten Theaterstücke habe ich mit zwölf geschrieben, orientiert an Schiller, schwere Stoffe um Tod und Leben. Sie wurden nie aufgeführt, ich habe alle vernichtet. Eins fand meine Frau später wieder und sagte: Immer, wenn es mir schlecht geht, lese ich diese Tragödie und lach mich zu Tode. Als Autor an der Volksbühne und am Deutschen Theater habe ich dann mein Handwerk gelernt. Mein erster Prosaband erschien, da war ich 38. Natürlich muss man beim Schreiben der Schöpfung einen Atem einhauchen. Die Figuren, die ich erfinde, müssen leben.

Sie leben abseits des Kulturbetriebs in einer Kleinstadt in Sachsen-Anhalt. Sind Sie ein Außenseiter?

Ja. Ich war das schon in der Schule: Pfarrerssohn, Ostler in West-Berlin. Westler in Ost-Berlin. Als Kind fiel mir das schwer, man will ja dazugehören. Als Erwachsener habe ich die Rolle als Außenseiter gern angenommen, sie gibt mir Freiheit, macht mich unabhängig.

Sie sind nach 60 Lebensjahren raus aus Berlin. Warum?

Ich war lange genug da, die Stadt wird rauer. Der Berliner Humor, den ich so mag, schwindet, im Straßenverkehr machen sich nur noch Unverschämtheiten breit. Ich habe gelesen, dass Sicherheitskräfte am Alexanderplatz jetzt Handschuhe tragen, womit sie ein Messer abfangen können. Man muss an jeder Ecke aufpassen, dass einen nicht irgendein Wahnsinniger anspringt. Ab und zu bin ich noch in Berlin, gehe in die Philharmonie. Danach nehme ich den letzten Regionalzug zurück aufs Land.

Was machen Sie nach einem Arbeitstag am liebsten?

Ich sitze hier auf der Terrasse, trinke ein Glas Wein, schaue auf den Fluss und höre Bach oder Mozart. Vorher muss ich aber gut gearbeitet haben, sonst bin ich unzufrieden.

Stehen Sie immer noch morgens um 6 Uhr auf?

Ja, meistens. Schreiben ist meine Erfüllung, ich arbeite 360 Tage im Jahr, mein ganzes Leben im Homeoffice. Ich brauche keinen Urlaub – wovon denn? Mein nächster Roman ist fertig, er spielt zum Ende der DDR hin. Am übernächsten sitze ich schon.

Woran soll man sich später an Sie erinnern?

Das ist außerhalb meines Interesses. Vielleicht bin ich schnell vergessen. Mich schmerzt etwas anderes: das Wissen, dass unsere Welt einmal verschwinden wird. Selbst wenn auf dieser Welt in Millionen von Jahren wieder neues Leben entsteht, wird es die Musik von Johann Sebastian Bach nicht verstehen und einen Michelangelo nicht mehr erkennen. Dann ist diese große Kunst ausgelöscht.

Sind Sie kein bisschen stolz auf Ihr Leben?

Nun, ein bisschen zufrieden mit diesem und jenem.