Nach ein paar Minuten Fahrt ist nichts mehr zu hören von der Autobahn 24 und ihrem endlosen Rauschen. Links der Landstraße sieht man ein sanftes Tal. Rechts reihen sich die Hügel aneinander. Auf dem höchsten liegt das Windeignungsgebiet 28. Dort sollen 16 Windkraftrotoren hin, jeder 250 Meter hoch. Die Gondel mit Nabe und Generator wäre so hoch wie der Berliner Funkturm; der Umkreis der Rotorblätter höher als die Kugel des Fernsehturms.

Die Leute hier, erzählt später Leonhard Schuster aus dem Dorf Rohrlack, Ostprignitz-Ruppin, Brandenburg, das ein paar Kilometer entfernt von dem Hügel liegt, auf dem die Riesenrotoren Ende kommenden Jahres stehen sollen, setzten sich für neue Wander- und Radwege ein. Doch durch die Windkraftanlagen sieht Schuster infrage gestellt, was sich in den Dörfern tut, vom Zuzug junger Familien hin zu mehr Touristen. „Wer will denn zwischen zwei Windparks wandern?“

Schuster gehört deswegen zu den Organisatoren von „Gegenwind“. Die Initiative ist in allen Dörfern der Umgebung vertreten, von denen die meisten keine zweihundert Einwohner haben. Sie alle gehören zur Gemeinde Temnitztal, Brandenburg, das wiederum zu den Bundesländern mit den meisten Windrädern zählt. Es liegt auf Rang zwei hinter Niedersachsen; im vergangenen Jahr führte die Mark nach einem Megawatt-Ausbau.

Auch wenn der Bundesverband Windenergie feststellt, dass in den ersten neun Monaten des laufenden Jahrs wesentlich mehr neue Anlagen ans Netz gegangen sind als 2020: Richtig gut steht Deutschland nicht da bei der Nutzung von Wind-, Sonnen- und Wasserenergie. Nur 17,4 Prozent des gesamten Verbrauchs werden so gedeckt, hat das Statistische Bundesamt errechnet. Im europäischen Vergleich sei das bloß Rang 16. Dänemark nutze die Windenergie erheblich intensiver, zu gut 37 Prozent. Das Land verfügt über große Offshore-Windparks vor seinen Küsten.

Olaf Scholz, im Wahlkampf noch „Kanzler für den Klimaschutz“, und seine Koalitionäre in spe wollen die Windkraft weiter ausbauen: Zwei Prozent der Fläche Deutschlands sollen, so steht es im Eckpunktepapier der Ampel-Verhandler, mit Windrotoren bebaut werden. In Ostprignitz-Ruppin seien es schon drei Prozent, sagen die „Gegenwind“-Mitglieder.

Neben Leonhard Schuster gehören die Ärztin Ingela Henning aus Manker und der Rentner Bernd Werner aus Wildberg zu den Organisatoren. Ihre Dörfer bilden ein Dreieck um das „Windeignungsgebiet“ 27. Hier drehen sich seit Jahren 14 Rotoren. Ebenfalls im Dreieck liegt der Hügel mit dem Eignungsgebiet 28.

Es ist der alte Streit: Für den Energiehunger der Städte und Industrie werden Kulturlandschaften mit Rotoren verstellt. Was die wenigen Menschen vor Ort dazu sagen, wird überstimmt. Doch 250-Meter-Windräder zeigen nun eine neue Dimension auf, mit neuer Leistung, neuer Wucht.

Windräder dieser Größe gibt es bislang nur im Hunsrück, einem Mittelgebirge in Rheinland-Pfalz. Im bayrischen Garching soll eins errichtet werden, worüber es Streit mit der Nachbargemeinde gibt – auch weil die Anlage nur tausend Meter entfernt von den nächsten Häusern gebaut werden soll. Das Gleiche befürchtet das Gegenwind-Team.

Betroffen wären all jene Menschen, die sich in der Nähe solcher Anlagen nicht wohlfühlen. Und die Behinderten in der Einrichtung, die Leonhard Schuster leitet. Seit 1997 gibt es die „Lebensgemeinschaft Rohrlack“. Schuster, von Beruf Architekt und von der Weltanschauung her Anthroposoph, ist hier, wie er sagt, „Hausvater“. Das heißt: Ansprechpartner für jeden, der einen braucht.

Die Lebensgemeinschaft besteht aus 37 geistig behinderten Menschen in drei Wohnhäusern und einem Ensemble alter Ziegelbauten. Es gibt eine Tischlerei, in der die Bewohner Marktstände aus Holz bauen und Besuchern zeigen, was sie produzieren. In einem hohen Backsteinbau, dem kräftige Gerüche entströmen, verpacken einige Frauen Pflanzen für den Verkauf. Gärtner und Hausmeister pflegen die Gebäude und Gartenflächen. All das bringt Schuster auf die Formel „160 Arbeitsplätze bei 160 Einwohnern“ – das sei in Brandenburg wohl einmalig.

Der Ex-Berliner hat sich die Stadt völlig abgewöhnt. Er führt über das Gelände, an früheren Stallungen und einem Badehaus vorbei durchs hohe Gras auf eine Streuobstwiese, erzählt von den Besitzern des Geländes, märkischer Adel, und weist auf ein Wäldchen, über das man die Rotoren ragen sieht. Er liebt den freien Blick „von Horizont zu Horizont“. Da will Schuster nicht noch mehr Windräder hineinragen sehen.

Beim Gang über den Friedhof zur Dorfkirche kommt ihm der ehemalige Ortsvorsteher entgegen, man begrüßt sich per Handschlag. Wenn einer seiner Schützlinge mit dem Fahrrad auf Tour gehe, werde er manchmal aus einem Nachbardorf angerufen, erzählt Schuster: „Vermisst Ihr einen? Der ist hier…“

Als man das Dorf vor mehr als zwanzig Jahren für die Idee der „Lebensgemeinschaft“ gewann, stand hier kein einziges Windrad. Eine Ausweitung werde die Gemeinschaft empfindlich stören, glaubt Schuster. Nachts wären die intensiv rot blinkenden Lichter stets zu sehen, deren Schein man in manchen Zimmern wahrnehmen werde. Eine intensivere Geräuschbelästigung sei zu erwarten. Und Infraschallwellen-Frequenzen unter 20 Hertz, die zwar unter der Hörbarkeitsgrenze liegen – aber nicht unterhalb der Wahrnehmungsgrenze. In der Lebensgemeinschaft gebe es Autisten und Epileptiker, sagt Schuster. Er befürchtet, dass die Rotoren sich intensiv auf ihr Befinden auswirken würden.

Wie Infraschall wirkt, ist umstritten. Wer in ein paar hundert Metern Entfernung den Lauten der mächtigen Rotoren lauscht, den mag das an- und abschwellende Rauschen stören, die eigenartige Vibration der Luft, das „Wuuuusch-wuuuusch-wuuuusch“ der riesigen Flügel. Es gibt Menschen, die sagen, dieses Geräusch bereite ihnen Kopfschmerzen. Doch das sind laut Untersuchungen nicht die einzigen Auswirkungen.

Eine offizielle deutsche Studie zum Infraschall stammt vom Bayrischen Landesumweltamt und datiert auf 2019. Ihr Fazit: Infraschallwellen könnten Menschen nicht schaden, weil sie unter der menschlichen Hörgrenze liegen. So steht es auch im neuen „Umweltbericht“ der Regionalplaner, der das Genehmigungsverfahren für eine ganze Reihe neuer Windparks in Temnitztal und benachbarten Gemeinden begleitet. Andere Hinweise auf Infraschall-Probleme werden nicht genannt. Das Landesumweltamt, zuständig für die Genehmigung der Anlagen, teilt dazu bloß mit, es gebe „Prüfungen“.

Schusters Mitstreiterin bei „Gegenwind“, die Ärztin Ingela Henning aus dem Nachbardorf Manker, sieht im Infraschall durchaus eine Gefahr. Henning lebt mit ihrer Familie auf einem Vierseithof. Sie verweist auf andere Untersuchungen als das Bayrische Landesumweltamt, die entsprechenden Studien liegen ihr vor. So hat ein Forscherkollektiv der Universität Mainz die Auswirkung von Infraschall auf den Herzmuskel untersucht – mit dem Ergebnis, die Schallwellen könnten die Muskelfasern schädigen.

Noch deutlicher werden zwei Professoren aus Halle und Mainz in ihrer Anfang Juli veröffentlichten Studie. Sie schreiben, Infraschall wirke als „Stressor“ auf diejenigen, die ihm durch die Geräusche der Windkraftanlagen ausgesetzt seien. Und: Infraschall wirke unmittelbar auf das Herz, könne den Schlaf stören, das Gleichgewichtsgefühl beeinträchtigen, Depressionen befördern oder auch Tinnitus.

All diese Symptome würden in der Umgebung von Windenergieanlagen registriert, heißt es in der Studie: Praktische Ärzte überall in Deutschland zählten bis zu 180 000 Betroffene in solchen Windenergie-Bereichen. Darüber gingen vor allem regierungsamtliche Untersuchungen hinweg, nicht nur in Deutschland, kritisieren die Wissenschaftler. Ihr Fazit: Für Menschen, die Infraschall-Schwingungen ausgesetzt seien, bestehe ein substanzielles Gesundheitsrisiko.

An dem Punkt will Rechtsanwalt Jörg von Freymann ansetzen. Die Hennings aus Manker haben ihn um Beratung im Genehmigungsverfahren des neuen, auf der Hügelkuppe geplanten Windparks gebeten. Der Neuruppiner Anwalt stößt sich schon an einer scheinbaren Formalität: Alle Angaben der Hersteller von Windkraftanlangen zu dem Schallpegel der Rotoren seien in den Planungsunterlagen „geschwärzt“, sagt er im Gespräch. Es gebe also „keine belastbaren Daten, die man überprüfen kann“.

Sebastian Haase ist Leiter der Landesgeschäftsstelle Berlin-Brandenburg des Bundesverbandes Windenergie. Er ist der Frontmann der Windenergie in Brandenburg und Berlin, ein freundlicher Anwalt der Energiewende. Zu der Infraschall-Problematik sagt er trocken: „Es gibt keinen nachweisbaren Einfluss.“ Wer eine halbe Stunde mit dem Auto unterwegs sei, bekomme mehr Infraschall ab als ein Mensch direkt neben einer Windkraft-Anlage. Das lese man in behördlichen Studien zur Infraschall-Problematik.

Dass Brandenburg im Vergleich zu anderen Bundesländern vorne liege beim Ausbau der erneuerbaren Energien, treffe zu. Aber nach „schwierigen Jahren“ mit Verzögerungen beim Bau neuer Anlagen zeichne sich ab, dass das Ausbauziel von 10 500 Megawatt 2030 „niemals“ erreicht werde. Derzeit produzieren in Brandenburg 3900 Anlagen fast 7500 Megawatt Strom aus Wind. „Man kommt nicht so richtig voran“, sagt Sebastian Haase. 2014 bis 2016 sind nach den Daten der Fachagentur erheblich mehr Anlagen errichtet und gebaut worden.

Der Windkraft-Fachmann hat für die Gegner der Rotoren Verständnis. Und meint doch, dass der Schauplatz des Konflikts unausweichlich ist. Ein Windrad auf dem Alexanderplatz würde „witzig aussehen“, scherzt er. Aber Energieproduktion brauche Fläche – und damit das Land.

Für Bernd Werner, den Gegenwind-Mann aus Wildberg, sind die Laufgeräusche der Windräder eine enorme Zumutung. Auf einem flachen Feld bei seinem Dorf versteht man, was damit gemeint ist. Jetzt, an einem Herbstabend, kreisen die Flügel mit eindrucksvollem Tempo unter dem grauen Himmel. Der Westwind trägt ihre Geräusche zu den Bewohnern der Siedlung am Fußballplatz von Wildberg. Kein Wald dämpft das Rauschen und Brummen. Nur die Mitarbeiter von „Wildberger Agrar“ mit seinen Biogasanlagen sind noch dichter dran an den Rotoren. Klar, dass hier manche die „Gegenwind“-Aktivisten unterstützen. Ein älterer Mann in einer Trainingsjacke sagt: Gewiss höre man die Anlagen – „aber was will man machen?“

Seine Nachbarin hat ein „Gegenwind“-Transparent am Gartenzaun befestigt. Den „Lärm“ der Anlagen nehme sie „ständig“ wahr, sagt sie. Immer sei da dieses Wummern und Brummen, unüberhörbar abends und nachts, wenn es sonst eigentlich ganz still ist in Wildberg. Sie habe Schlafprobleme, ihre Konzentration leide, „aber Einwendungen wurden weggewischt“, sagt sie – „vom Infraschall ganz zu schweigen!“ Sie ist auf dem Weg zur Nachtschicht.

Schuster und seine Mitstreiter haben Fakten gesammelt und Einwände geschrieben. Der Mann aus Rohrlack hat es in die Fernsehsendung „Klartext, Frau Baerbock“ geschafft, als die grüne Spitzenkandidatin vor der Bundestagswahl interviewt wurde. Klar wurde in der Sendung aber vor allem, dass die beiden sich nicht einig wurden.

Schuster sprach von einer Lärmschutzverordnung von 1998, die noch immer an hundert Meter hohen Anlagen orientiert sei und nicht an den neuen 250-Meter-Rotoren. Er sprach von den geschwärzten Planungsunterlagen, aus denen Windkraft-Gegner nicht erkennen können, ob der Gesundheitsschutz beachtet werde. Baerbock argumentierte mit der „Verwaltung“, die das alles prüfe, und versprach: „Nach der Bundestagswahl komme ich vorbei!“ Im „Faktencheck“ zur Sendung blieben Schusters Argumente unberücksichtigt.

Immerhin, sagt Schuster beim Gespräch in Rohrlack, habe sich ihr Büro gemeldet. Man suche einen Termin, um vorbeizukommen. Schuster kann ihr dann zeigen, was aus der Landschaft geworden ist, die er so mochte: eine Landschaft der Energie-Industrie.

Abwehrhaltung. Leonhard Schuster und Ingela Henning gehören zur Initiative „Gegenwind“. Fotos: Imago Images/Serienlicht, privat