„Struktureller Rassismus“ ist das Reizwort der Stunde. Weil es einerseits die Ohnmacht des Individuums suggeriert; ein Hauch von Unabänderlichkeit schwingt in dem Begriff immer mit. Und andererseits, weil es niemanden aus der Verantwortung nimmt; selbst jene nicht, die sich der Strukturen, in denen sie leben und arbeiten, bewusst sind – und trotzdem mal eine unbedachte Äußerung von sich geben. Als weißer Mensch in einer Gesellschaft, die das eigene Äußere immer noch zum Maß aller Dinge nimmt, fällt es leicht, sich über vermeintlich übertriebene Sensibilitäten gegenüber Minderheitenpositionen aufzuregen. Schwieriger ist es da anscheinend, den Diskriminierungserfahrungen Anderer mit Empathie zu begegnen.

Das öffentlich-rechtliche Fernsehen sollte in einer freien Gesellschaft der Ort sein, an dem sich die demografischen Verhältnisse am deutlichsten wiederspiegeln. Der Rundfunk ist eine demokratische Institution mit Bildungsauftrag (und finanziert aus Beitragsgeldern); jede und jeder sollte sich daher im Fernsehen wiederfinden können. 2007 war der WDR die erste Rundfunkanstalt, die die „Charta der Vielfalt" unterzeichnete, inzwischen sind alle ARD-Sender beigetreten. Damals erklärte der Muttersender: „Die ARD wird durch gezielte Personalgewinnung- und Entwicklung Redakteure, Autoren, Moderatoren und Schauspieler ausländischer Herkunft verstärkt fördern. Weiter wird mit der Charta das Ziel verfolgt, dass Menschen mit Migrationshintergrund als Protagonisten in unterschiedlichsten Lebenslagen, insbesondere außerhalb gebräuchlicher Klischees, auftreten.“ Über zehn Jahre später ist von diesem lobenswerten Anspruch quer durch alle Sender immer noch zu wenig zu erkennen.

Nach der Ermordung des Afroamerikaners George Floyd und den Protesten gegen Polizeigewalt ist die Diskussion um strukturellen Rassismus auch in Deutschland angekommen. Deutlichster Kritikpunkt ist hierzulande die Sichtbarkeit von People of Color in der Politik, in der Wirtschaft – und den Medien.

Dass sich hier langsam etwas bewegt, hält der Schauspieler Pierre Sanoussi-Bliss nur für eine Floskel: „Seit 30 Jahren höre ich das, immer wenn einmal eine dunkle Nase in der Glotze zu sehen ist“, erzählt er im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Sanoussi-Bliss gehört zu den lautesten Kritikern der Öffentlich-Rechtlichen. 2015 lief nach 18 Jahren sein Vertrag als Assistent Axel Richter im ZDF-Krimiklassiker „Der Alte“ aus, er reagierte mit einer öffentlichen Replik auf den Umgang mit ihm. Seitdem hat er nur noch einen einzigen Tag fürs Fernsehen gedreht, wie er meint. Heute spielt er Theater. „Das Fernsehen spiegelt immer noch den Heimatfilm der fünfziger Jahre wider“, sagt Sanoussi-Bliss. Und erinnert an die Warnung des Regisseurs Uwe Janson, dass die Sender aufpassen müssten, dass sie kein Programm für AfD-Wähler machen.

Sanoussi-Bliss ist in Ost-Berlin aufgewachsen. Seine Mutter stammt aus der DDR, sein Vater war ein guinesischer Diplomat. In „Der Alte“ sei seine Hautfarbe nie Thema gewesen, sagt er, er hatte mit Charles M. Huber einen beliebten Vorgänger. „Aber außerhalb der Krimi-Reihe durfte ich immer nur ‚der Andere‘ sein, der Fremde, das Problem.“ Er sei mehrfach gebeten worden, doch bitte gebrochen Deutsch zu sprechen; wurde abgelehnt mit der Begründung, dass leider schon ein Schwarzer mitspiele.

Er erinnert sich an eine Situation. „Meine Agentin hatte mal bei dem ‚Traumschiff‘-Produzenten Wolfgang Rademann angefragt wegen einer Rolle für mich. ‚Wat soll ick denn mit nem Mulatten?‘, war seine Antwort. Wenn ich die Geschichte erzähle, wird gelacht, ach ja, der Rademann, heißt es dann. Auch das ist Teil des Problems.“ Aber verbittert sei er nicht, sagt der 58-Jährige. Er habe sich damit abgefunden, dass sich für seine Generation kaum mehr etwas ändern werde, er auf seinen Durchbruch als Klinikchef oder Schuldirektor wohl verzichten müsse. Seit gerade mal zwei Jahren gibt es mit Florence Kasumba die erste schwarze „Tatort“-Kommissarin. „Mich langweilt dieses Bild, dass von Deutschland in den Medien gezeichnet wird. Deswegen schaue ich fast nur noch Netflix & Co. Leider begegnen mir dort in deutschen Produktionen auch wieder nur die üblichen Gesichter“, sagt Sanoussi-Bliss.

Die Schauspielerin Jing Xiang gehört hier zu den Ausnahmen. Die 28-Jährige wurden in der Netflix-Serie „Biohackers“ einem größeren Publikum bekannt. Sie erinnert sich im Gespräch, wie sie bei ihrer ersten Fernsehrolle als eins von zwei chinesischen Aupair-Mädchen besetzt wurde. „Trag lieber die Brille“, sagte man damals zu ihr am Set, „Sonst haben die Zuschauer zu große Probleme, euch auseinanderzuhalten.“ Inzwischen hat Xiang ein Engagement am Schauspielhaus Bochum. „Theater darf viel mehr, es erlaubt Abstraktion,“ sagt sie. „Vielleicht auch weil man dem Zuschauer hier mehr zutraut als im Fernsehen.“

Die gebürtige Berlinerin machte ihre ersten Erfahrungen mit Rassismus beim Vorsprechen an der Schauspielschule Hamburg. „Du bist begabt, aber es ist nicht üblich, dass Leute, die so aussehen wie du, auf deutschen Bühnen stehen“, sagte einer der Dozenten zu ihr.

„Ich fand es krass, dass er es ausgesprochen hat und habe mich gefragt, wie viele das vor ihm schon gedacht haben.“ Vorgelassen habe er sie trotzdem. „Um mich seinen Kollegen zu zeigen. Ich habe mich gefühlt wie ein Zirkuspferd.“ Bei der Aufnahmeprüfung an der Schauspielschule Hannover hörte sie, dass man sie nur nehme wegen des Asia-Bonusses. Jing Xiang hat aber das Gefühl, dass sich durch die Black-Lives-Matter-Bewegung auch hierzulande etwas getan hat. „Die Menschen sind einsichtiger, wenn ich es anspreche.“ Sie sei auch positiv überrascht, wie sich ihre Rollenanfragen beim Film verändert haben. Sie werde nicht mehr nur als „die Asiatin“ besetzt.

Die mangelnde Diversität an Schauspielschulen sowie in Film und Fernsehen, vor allem in öffentlich-rechtlichen Anstalten (die Privatsender sind da schon etwas weiter), bereitet auch Holger Zebu Kluth, dem Rektor der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch, Kopfzerbrechen. „Wir wissen, dass es uns nicht gelingt, die soziale Wirklichkeit abzubilden“, sagt Kluth. Es seien sehr langsame Prozesse, die es nun gelte voranzutreiben. Die Schule sei im Gespräch mit Jugendclubs, mit dem Gorki-Theater, „aber wir befinden uns in einem Dilemma: Wir sind für das Thema sensibilisiert, können aber nicht proaktiv sein und dürfen auch niemanden bevorzugen. Als Schule können wir nur die berücksichtigen, die bei uns vorsprechen.“ Vielleicht ist diese zögerliche Haltung auch ein Grund, warum sich der Wandel so langsam vollzieht. Vergangenes Jahr vergab die Schauspielschule an die südkoreanische Regie-Studentin Eunsoon Jung den DAAD-Preis. Gleichzeitig gibt es immer wieder Kontroversen wie vergangenen Juli um eine „Hair“-Inszenierung in Chemnitz, die offenkundig machen, dass es deutschen Theatern an Diversität mangelt.

Pierre Sanoussi-Bliss hat selbst an der „Ernst Busch“ unterrichtet, in Sachen Diversität habe sich seiner Meinung nach nicht viel getan. Vielleicht seien es ja die fehlenden Vorbilder in Film und Fernsehen, mutmaßt er. Darum plädiert Sanoussi-Bliss für eine Quote. „Ich würde mir wünschen, dass nur Filme Fördergelder bekommen oder für Preise eingereicht werden können, die divers besetzt sind. Ohne Quote geht es nicht.“ Einen Durchbruch stellt die „Diversity Checklist“ der Filmförderung Hamburg dar, die im vergangenen Sommer eingeführt wurde. Sie soll Antragsteller:innen dazu anregen, Filmstoffe kritisch zu hinterfragen. Aber das Problem beginnt früher, an den Film- und Schauspielschulen. Und setzt sich später in der Branche fort.

Sanoussi-Bliss ist seit fünfzehn Jahren Mitglied der Deutschen Filmakademie – als einer der wenigen schwarzen Schauspieler. „Das bedingt sich alles. Mitglied konnte nur werden, wer drei Hauptrollen gespielt hat. Und schwarze Schauspieler sind nun mal in Deutschland selten mehr als der Sidekick.“ Er habe noch nie mit einer der Regisseur:innen aus der Filmakademie gearbeitet.

Annabelle Mandeng hatte jüngst ihren großen Auftritt in Burhan Qurbanis Adaption von „Berlin Alexanderplatz“. Mandeng wurde 1971 in Göttingen als Tochter einer deutschen Studienrätin und eines Regierungsbeamten aus Kamerun geboren. „Damals waren wir eine Minderheit von ein paar hundert schwarzen Kindern in Deutschland“, erinnert sie sich an ihre Kindheit in der niedersächsischen Provinz. „Da hat sich einiges geändert, inzwischen ist die Bevölkerung durchmischt, wir Afrodeutsche machen mittlerweile rund ein Prozent aus.“

Aber auch sie vermisst mehr Sichtbarkeit für People of Color, gerade vor dem Hintergrund rassistischer Anschläge wie in Hanau im Februar 2020. Darum zeigt die Schauspielerin in der Öffentlichkeit Haltung, setzt ihre Prominenz gegen Rassismus ein. Auch zum Thema Flüchtlingspolitik hat sich Mandeng in der Vergangenheit oft zu Wort gemeldet – und sah sich infolgedessen so wüsten Beschimpfungen ausgesetzt, dass sie irgendwann ihren Facebook-Account sperrte.

Aber selbst wenn sich das Fernsehen einmal ernsthaft mit den Erfahrungen von People of Color beschäftigt, kann das nach hinten losgehen. Im vergangenenJahr wirkte sie bei einem Beitrag mit, der sich dem Thema „Schwarze in Deutschland“ widmete. „Hinterher habe ich mich sehr geärgert, wir wurden komplett in die Opferrolle gedrängt“, erzählt sie. „Es soll doch nicht darum gehen, dass Weiße nett zu uns sind. Mir ist es wichtig in den Vordergrund zu stellen, wie sehr Diversität unsere Gesellschaft bereichert, kulturell, intellektuell und auch nachweislich wirtschaftlich.“

Deshalb ist Mandeng ebenfalls für eine Quote. Und solange es die nicht gibt, möchte sie auf die Sender zugehen. Sie hat mit dem Kollegen Ron Iyamu eine Liste mit afrodeutschen Schauspieler:innen und deren Agenturen erstellt und diese an Netflix geschickt, an den Casting-Verband und den Verband der Drehbuchautoren. Darüber hinaus reicht sie an Netflix und andere Produktionsfirmen Stoffe und Konzepte weiter, die auf People auf Color zugeschnitten sind. Doch Mandeng sieht sich nicht als Aktivistin: „Ich möchte einfach einen Teil dazu beitragen, dass es gerechter zugeht.“

„Herzlich Willkommen im Ersten Deutschen Weißen Fernsehen!“ Mit diesen Worten begrüßte Shary Reeves im vergangenen Jahr das Publikum zum „Brennpunkt Rassismus“ in der „Carolin Kebekus Show“. Ihr Auftritt war viel beachtet, aber manchmal will Reeves gar nicht mehr über das Thema Rassismus sprechen. „Mich zermürbt das Thema, seit ich hier geboren wurde.“ Für viele jüngere Erwachsene ist sie die Heldin ihrer Kindheit. 16 Jahre lang moderierte die Tochter eines Kenianers und einer Tansanianerin mit Ralph Caspers die Sendung „Wissen macht Ah“ im ARD-Kinderprogramm.

„Ich hatte immer das Gefühl, mehr Vorbild sein zu müssen, wegen meiner Hautfarbe, die mich unter Generalverdacht stellt.“ Besonders wurmt sie das „Othering“. Reeves: „Formulierungen wie ‚der farbige Sänger Seal‘, das muss aufhören. Wir wollen zur Gesellschaft dazugehören, ohne Hautfarben-Stempel.“

Skadi Loist wünscht sich von den Sendern in Deutschland mehr Risikobereitschaft und Vertrauen in die Zuschauenden. „Ich glaube, in den Redaktionen wird zu viel an das imaginäre Mehrheitspublikum gedacht. Das versteht doch die Oma in Marzahn nicht. Ja, aber warum denn nicht?“ Loist lehrt an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf und forscht zu Gendergerechtigkeit und Diversität in audiovisuellen Medienindustrien. „Niemand wünscht sich schablonenartige Schachbrettmuster“, erklärt sie. „Es geht um mehr Vielfalt. Wer einen Film macht, sollte sich fragen, ob er mit seinem Stoff wirklich Deutschland 2021 abbildet.“

Reeves erzählt, dass nach dem Ende von „Wissen macht Ah!“, anders als bei ihrem Moderationspartner, neue Angebote ausgeblieben seien. Großbritannien und Frankreich, bestätigt Loist, seien in dieser Hinsicht viel weiter als Deutschland, das liege auch an einem anderen gesellschaftlichen Selbstverständnis. „Ich bin die Gesellschaft“, sagt Mandeng. „Mit dem, was im Fernsehen abgebildet wird, können sich sehr viele Menschen nicht mehr identifizieren.“ Zum Realitätsabgleich empfiehlt die Schauspielerin einen Blick in Kindergärten und Schulen. „Das ist die Gesellschaft von morgen.“

Sie wünschen sich mehr Sichtbarkeit im deutschen Kino und Fernsehen. „Berlin Alexanderplatz“-Star Annabelle Mandeng, der ehemalige Fernsehermittler Pierre Sanoussi-Bliss, die Netflix-Seriendarstellerin Jing Xiang und die ehemalige ARD-Moderatorin Shary Reeves (im Uhrzeigersinn). Foto: Privat, Ralf Eden, Anne Rietmeijer, Jochen Manz