Links steht die Mauer noch hinter Büschen, auf dem mittleren Bild sind Mauersegmente zur Seite geräumt und säumen den Dammweg in Treptow, der mächtige Wachturm wirkt etwas verloren im ehemaligen Todesstreifen. Auf dem rechten Bild sieht man ebenfalls die Mauerreste, im Vordergrund, auf der Westseite, haben die „Mauerspechte“ sich Stücke aus dem Betonwall herausgehämmert. Der Dammweg ist zwar noch für den Autoverkehr gesperrt, aber zu Fuß kann man locker die Grenze überschreiten.

Das dreiteilige Bild von Josef Wolfgang Mayer aus dem Sommer 1990 ist eines von über 40, die die virtuelle Fotoausstellung „Standing by the Wall. Berlin 1990“ zeigt. Zu sehen ist sie bis zum 31. Dezember 2021 auf der Website der Galerie Koschmieder (galerie-koschmieder.de).

Dass nach dem Niedergang der DDR die Situation an der ehemaligen Grenze in Berlin so nicht bleiben würde, war klar, doch nur wenige haben diese faszinierende Zwischenzeit systematisch festgehalten. Mayer nutzte im Sommer 1990 die Gunst der Stunde, die kurze Periode zwischen der Maueröffnung und den kommenden Veränderungen fotografisch zu dokumentieren. In den Jahren zuvor hatte er im Schatten der Mauer in Kreuzberg gelebt und gearbeitet, das Grenzregime war ihm vertraut, aus den obersten Stockwerken der Häuser hatte er jahrelang die Patrouillenfahrten und die Grenzsoldaten beobachtet.

rt Panorama. Bei Betrachtung der über 40 Bildkompositionen fällt auf, dass die ersten Farbtupfer von Plakatwänden mit Zigarettenwerbung stammten, sie waren die ersten Zeichen der neuen Ordnung. Und in Mitte witterten fliegende Händler mit Militaria und DDR-Fahnen schnell ihr großes Geschäft. Menschen sieht man selten auf Mayers Bildern. Oft fotografiert er im ehemaligen Todesstreifen die Durchbrüche, säuberlich gelagerte Mauersegmente, den frischen Asphalt.

Der ehemalige Grenzübergang für Bundesbürger in der Heinrich-Heine-Straße sieht desolat aus, ein Abfertigungsgebäude ist nur noch ein Schrotthaufen, auf dem anderen prangt triumphierend die Zigarettenreklame. Die Brutalität der Mauer zeigt im Sommer 1990 noch die Oberbaumbrücke. Hier sperrt die Mauer immer noch die Fahrbahn, dahinter der mächtige Wachturm auf der Straße, nur Fußgänger können passieren.

Je weiter man sich vom Zentrum entfernt, desto intakter ist die Mauer. Da fehlen mal gerade zwei Segmente in der Gartensiedlung in Treptow für den schnellen Grenzübertritt. Dass die Grenze noch formal existiert, dokumentiert ein Schild in der Sonnenallee, das neben der Zigarettenreklame steht und darauf hinweist, dass in der DDR die 0,0-Promille-Grenze gilt.

Auf dem Invalidenfriedhof ist die innere Mauer noch intakt, einsam steht ein Grabmal vor ihr. Manche Straße hat bald nach der Aufnahme einen neuen Namen bekommen, einige wechselten das Bundesland und gehörten dann ab 1993 zum Kreis Königswusterhausen.

Man klickt sich ganz einfach durch die virtuelle Ausstellung, die auf der Basis des 2020 bei Buchkunst erschienen gleichnamigen Buches konzipiert wurde. Es empfiehlt sich, erst eine Tour zu wählen, um sich zu orientieren. Danach kann man sich seine Lieblingsorte genauer anschauen und auch hineinzoomen.

Den Fotos sieht man nicht an, dass links und rechts der Mauer zwei lebendige Stadthälften existierten, sie wirken wie tot in einer desolaten „Lost City“. Dabei ist es nur das kurze Atemholen vor der rasanten Entwicklung der dann vereinten Stadt, die Josef Wolfgang Mayer mit historischem Gespür im richtigen Moment festgehalten hat – eine beeindruckende Reise in die Zwischenzeit.

Go West. Die ersten Farbtupfer am (ehemaligen) Mauerstreifen kamen von Plakaten mit Zigarettenwerbung – die neue Ordnung war schnell klar. Durch das Triptychon-Format verleiht der Fotograf Josef Wolfgang Mayer seinen Alltagsbeobachtungen etwas Sakrales.

Kurze Phase. Mitte 1990 sperrte die Mauer noch die Oberbaumbrücke an der Grenze von Friedrichshain und Kreuzberg für Autos – Fußgänger konnten aber frei passieren. So sah es vielerorts aus. Fotos: Josef Wolfgang Mayer