Die Möbel aus dem 18. Jahrhundert hatten natürlich eine Bedeutung, die handgearbeiteten Teppiche aus dem Iran auch, sie hat das alles gekauft und verkauft, Sherin arbeitete ja im Familienunternehmens ihres Großvaters, in Palästina ein angesehener Kunsthändler. Aber den größten Einfluss auf Sherin, die junge Frau, die in Berlin geboren wurde, den hatte Franz Kafka, der berühmte Autor. Seine Geschichten faszinierten Sherin, mehr Unabhängigkeit, das war ihr Ziel, wenn sie seine Texte las.

Unabhängigkeit, für Sherin ist sie eng gepaart mit Wissen, also entschloss sie sich zu diesem Schritt, den sie als so mutig empfand: Sie meldete sich bei der Peter-A.-Silbermann-Schule an, dem Abendgymnasium in Wilmersdorf. Ihr Ziel: Abitur, Studium von Kunst und Geschichte. Sherin ist 23 Jahre alt.

Man kann das alles lesen, ihre Biografie, ihre Bedenken und ihre Wünsche hängen als großer Text neben ihren Fotos. Sherin zwischen Gemälden, auf einem barocken Stuhl sitzend, Sherin an der Tafel, vor einem langem Text. Symbole von Arbeit und Schule.

Die Fotos hängen in einem langen Flur des Silbermann-Gymnasiums, neben dem Büro von Christiane Grüner, der Schulleiterin. Sie läuft jetzt an den Fotos vorbei, nicht bloß an denen von Sherin, sondern von sechs weiteren „Hörern“, wie die Schüler hier genannt werden. Immer sind es jeweils zwei Bilder, eines zeigt die Hörer in ihrem Arbeitsumfeld, das andere im Schulkontext. Und immer steht die Biografie daneben, persönliche Texte voller Wünsche, Sehnsüchte, Fakten.

„Die Fotos gehören zu unserem Langzeitprojekt“, sagt Grüner. Die Idee: Zeigen, wie zwei Welten verschmelzen, Arbeit und Schule. Texte und Fotos sollen aber auch motivieren. Durch diesen Flur gehen ja ständig alle rund 130 Hörer des Gymnasiums. Unausgesprochen erhalten sie dadurch auch die Botschaft: Es lohnt sich, wenn ihr euch anstrengt und durchhaltet. Die Belastungen in einem Abendgymnasium sind ja beträchtlich. Die meisten Schüler arbeiten tagsüber, da ist es nicht einfach, abends die Konzentration für den Abiturstoff aufzubringen. Inzwischen stehen Fotos und Biografien auch auf der Homepage der Schule, eine virtuelle Ausstellung.

Die Berliner Fotografin Anke Jacob hat die Bilder gemacht, ästhetisch wunderschön, mit großem Aufwand, ausdrucksstark. Christiane Grüner bezahlt die Honorare für die Künstlerin aus ihrem Verfügungsfonds. Und natürlich sollen die Fotos auch eine Außenwirkung auf all jene haben, die nicht zur Schule gehören.

2018, als das Projekt begann, wurden in einem Jahr noch mehrere Hörer gleichzeitig präsentiert. Das wurde dann auf eine Person pro Jahr reduziert. Durch Corona war nicht mal diese Zahl möglich, deshalb werden in diesem Jahr Fotos und Texte von zwei Abiturienten ausgestellt.

Und diese beiden sitzen jetzt, die Abiturprüfungen haben bereits begonnen, in der Schulbibliothek. Einer von ihnen hat raspelkurze Haare und einen akkurat geschnitten Vollbart, vor allem aber beeindruckende Oberarmmuskeln. Die Muskeln spielen eine große Rolle bei der Persönlichkeitsentwicklung von Franek Kowalczyk. Sie stützten sein Ego, aber hemmten auch sein Selbstbewusstsein, Kräfte arbeiteten gegeneinander.

In seinem früheren Leben war Franek Kowalczyk der Kraftprotz, Dauergast im Fitnessstudio, anerkannt als Muskelmann, respektierter Türsteher im Havanna-Club. Seine Kumpel hörten zu, wenn er über Ernährung, Bankdrücken und Beinpresse redete. Seine Kumpel hörten weg, wenn er über Politik oder Geschichte redete. Das passte nicht zu dem optischen Bild, das sie von ihm hatten.

Durch die beeindruckten Blicke auf seine Oberarme fühlte sich Kowalczyk, der Deutsche mit polnischen Eltern, einerseits geehrt, zugleich aber auch „stigmatisiert“. Er war doch mehr als bloß der Muskelprotz! Gut, er hatte kein Abitur und eher lustlos eine Lehre als Einzelhandelskaufmann absolviert, aber immerhin hatte er dann als Rettungssanitäter gelernt, einen allergischen Schock von schweren Herzbeschwerden zu unterscheiden. Ja, er liebte auch das Abenteuer und das lockere Leben. Aber er fühlte sich geistig auch unterfordert.

Vor knapp vier Jahren bewarb er sich beim Justizvollzugsdienst. Er wurde genommen, nachdem er 20 Kilogramm Muskelmasse abgebaut hatte. Was nützt ein Schwarzenegger-Verschnitt, wenn so jemandem beim vielen Treppensteigen schnell die Puste ausgeht. Im Dienst lernte Kowalczyk „interessante Leute kennen“, Richter, Anwälte, Gutachter. Aber er wollte mehr geistige Nahrung.

Also meldete er sich beim Abendgymnasium an, Zielrichtung: Abitur, dann Biochemie-Studium. Dafür allerdings benötigt man verdammt gute Noten. Doch Franek Kowalczyk ist die fleischgewordene Motivation für die Hörer der Peter-A.-Silbermann-Schule.

Der 28-Jährige lehnt sich leicht nach vorne und sagt: „Ich bin eher übermotiviert.“ So freundlich kann man eine Untertreibung auch formulieren. Kowalczyk betreibt Lernen „immer zu 100 Prozent, es steht über allem“. Weil er in Englisch Mühe hatte, beschloss er, in den Ferien täglich 100 neue Vokabeln zu lernen. Wochenlang sah er nur englische Filme.

Und trotzdem, Kowalczyk redet jetzt mit traurigem Dackelblick, „muss ich in Englisch Abstriche machen, ich habe nur zwischen zwei minus und drei plus. Mit Abstand meine schlechtesten Noten.“ Ansonsten steht er in jedem Fach auf einer Eins. Sollte es für Biochemie nicht reichen, schwenkt er um auf Agrarwissenschaft. Im Oktober kündigt er seinen Job.

Dann wird er auch seinen härtesten Moment in der Schule endgültig verkraftet haben. Ausgerechnet in der letzten Englisch-Klausur vor den Abiturprüfungen schrieb er eine Vier. Ein Schock. „Das“, sagt Kowalczyk, „hat mich kurzzeitig Selbstbewusstsein gekostet.“

Youssef Ibrahim hat interessiert zugehört, er sitzt neben Kowalczyk. Einige der Geschichten kennt er, die beiden lernen zusammen. Aber Ibrahim ist zehn Jahre älter als Kowalczyk, das Alter spielt bei ihm eine bedeutsame Rolle. Er hatte sich mal 2004 an einer Abendrealschule angemeldet, nach sechs Monaten brach er ab, er war 24, er fühlte sich zu alt. 2018 meldete er sich dann an der Silbermann-Schule an, anfangs wieder begleitet vom Gefühl: Eigentlich bin ich zu alt.

Vier Jahre und viele Momente der Selbstüberwindung später ist dieses Gefühl nur noch verblassende Erinnerung. Auch Ibrahim steckt mitten im Abitur, drei von fünf Prüfungen hat er absolviert. Seine Ansprüche sind inzwischen enorm. „Bei allem, bei dem ich weniger als zwölf Punkte bekomme, habe ich versagt“, erklärt er. Der 38-Jährige steht überall auf einer Eins. Ein weiterer Beleg für den Satz: Leistung lohnt sich.

Ibrahim, in Teilzeit als Pförtner in einem Wohnungslosenheim angestellt, hat einen harten Weg hinter sich. Sein Geburtsort ist Tyros, die Küstenstadt im Libanon, die ersten sechs Jahre lebte er in einem UN-Flüchtlingslager für palästinensische Flüchtlinge. Sein Vater führte Filme in einem Kino vor, vielleicht prägte das den kleinen Youssef. Er weiß es natürlich nicht, aber wenn es so ist, dann passt es schön ins Gesamtbild. Denn der kleine Youssef schrieb seit der zweiten Klasse gerne Kurzgeschichten. Zu diesem Zeitpunkt lebte er mit seiner Familie schon in Deutschland. Aber er wollte seine Worte in Bilder umsetzen. Als er mit 16 Jahren ein Schülerpraktikum in den Filmstudios Adlershof absolvierte, machte das nachhaltigen Eindruck auf ihn. Zum ersten Mal erlebte er die vibrierende Atmosphäre eines Sets.

Seine Schulzeit endete mit einem erweiterten Hauptschulabschluss, es folgten Jahre ohne klare Strukturen, und nach der abgebrochenen Abendrealschule „habe ich drei Jahre vor mich hinvegetiert“. Doch so kann man keine Familie ernähren, er hatte aber inzwischen Frau und Kinder, also bewarb er sich bei einer Schokoladenfabrik als Maschinenbediener. Seinen Kollegen fiel er bald auf, weil er geistreiche Sachen erzählen konnte. Irgendwann fragten sie ihn: „Weshalb arbeitest du nicht woanders?“ Sie wussten nicht, dass ihr Kollege nur einen erweiterten Hauptschulabschluss hatte.

2018 hatte Ibrahim keine vernünftige Antwort mehr auf die Frage seiner Kollegen, also meldete er sich bei der Silbermann-Schule an. Doch er hatte die Antwort auf eine andere Frage: Was will ich werden? Die Antwort lautete: Regisseur. Aber Regie muss man studieren, und dafür braucht er das Abitur.

Ein zielführendes Praktikum fürs Studium hat er quasi vor der Haustür absolviert. Ibrahim drehte für das Gymnasium Kurzfilme.