Im Alten Fahrrad Bechtel vermiest an diesem Mittwochmorgen das Radio die Stimmung. „Verändere diese Welt mit deinem Lächeln“, steht in schwarzen Papierlettern an der Wand hinter dem langen Tresen der Kneipe. Ein Mann sitzt vor dem Zapfhahn, vor ihm eine „Bild“-Zeitung und ein alkoholfreies Pils. 7.30 Uhr, noch genug Zeit für eine neue Flasche vor Schichtbeginn bei der BASF. Der rustikale Schankraum mit seinen Ziegelfliesen und weißen Spitzenvorhängen ist fast leer, die beiden Spielautomaten unbesetzt. Nur ein Kollege, der heute freihat, sitzt am Tisch in der Ecke vor einem Herrengedeck, Bier und Schnaps.

„Wie am Montag angekündigt hat der russische Energiekonzern Gazprom die Gaslieferungen nach Deutschland erneut gedrosselt“, sagt die Nachrichtensprecherin im Radio.

Die Folgen dieser kurzen Meldung sind nur wenige Meter neben der kleinen Gaststätte so sichtbar wie wohl nirgends sonst in der Republik. Hinter dem Alten Fahrrad Bechtel, nur einmal schnell durch Tor 12, liegt hier im Norden von Ludwigshafen am Rhein das Hauptwerk der BASF. Qualmende Schornsteine, silbrige Rohre, unzählige Lichter. In der Nacht scheint der Firmenkomplex wie die Skyline einer Weltstadt.

Der größte Chemiekonzern der Welt ist zum Zentrum der Gaskrise geworden, denn nirgends wird in Deutschland mehr Gas benötigt als auf dem rund 1400 Fußballfelder großen Gelände. 37 Terawattstunden Gas verbraucht die BASF pro Jahr – mehr als ganz Berlin. Seitdem Russlands Präsident Wladimir Putin am Gashahn dreht, droht der BASF eine Vollbremsung. Sollte die Bundesregierung die finale dritte Stufe des Notfallplans Gas aktivieren, müsste sich die Industrie auf Rationierungen einstellen. Die Folgen wären dramatisch – für die 38 000 Beschäftigten von BASF, die Stadt Ludwigshafen und die ganze Republik.

„So was habe ich auch noch nicht erlebt“, sagt der Mann mit dem alkoholfreien Bier in Kurpfälzer Dialekt und schielt zum Radio. Seit fast 40 Jahren arbeite er bei der BASF. Die tätowierte Wirtin im T-Shirt einer Hardrock-Band, die gerade ein paar Biergläser abstaubt, seufzt: „Erst Corona und jetzt das.“ Seit sieben Jahren arbeitet sie in der Wirtschaft. Früher sei das Häuschen zwischen einem Autobahnzubringer und dem BASF-Werksgelände eine Fahrradwerkstatt gewesen, erzählt sie. Seit mehr als 30 Jahren ist der Laden nun schon Seelenwerkstatt für die Beschäftigten des Chemiekonzerns. Jeden Tag um vier Uhr morgens öffnet die kleine Kneipe. „Ohne die BASF wäre dieser Ort nicht vorstellbar“, sagt die Wirtin. Doch genau das könnte im Winter passieren.

So stellt es jedenfalls Uwe Liebelt dar. Der Werksleiter der BASF in Ludwigshafen sitzt im firmeneigenen Besucherzentrum. An diesem heißen Sommertag hat er Grünen-Chefin Ricarda Lang zu Besuch und wirbt bei ihr um Verständnis: „Wir brauchen Erdgas“, sagt Liebelt. „Sowohl zum Erzeugen von Energie, als auch als Rohstoff für unsere Produkte.“ Und die sind für Deutschland teils von entscheidender Bedeutung: 45 000 Verkaufsprodukte stellt die BASF in den mehr als 200 Produktionsanlagen am Standort her. Für die Autoindustrie, die Lebensmittelbranche, die Landwirtschaft. Und so ziemlich alles andere, was im Land benutzt und gekauft wird. Bei vielen Gütern liege der Marktanteil des Konzerns bei mehr als 30 Prozent, bei einigen auch bei 90 oder gar 100 Prozent. Doch dafür ist das Unternehmen auf Gas angewiesen. Auf sehr viel Gas.

Fast vier Prozent des deutschen Gesamtverbrauchs fließt allein in das Werk in Ludwigshafen. „Das war uns vor einem Jahr auch noch nicht klar“, sagt Liebelt. Erst im Januar sei man sich der Dimensionen bewusst geworden, gesteht der Manager der Politikerin Lang. „Erdgas war leicht verfügbar, da hat sich niemand groß Gedanken gemacht.“

Allerdings hat die BASF diese Abhängigkeit auch lange nicht wahrhaben wollen – und sogar aktiv kultiviert. Seit fast 30 Jahren arbeitet sie eng mit Gazprom zusammen und ist als Mehrheitsaktionär über die Tochtergesellschaft Wintershall Dea direkt an der Öl- und Gasförderung in Russland beteiligt. Noch im April 2014 – kurz nach der Annektion der Krim – sah der damalige Vorstandschef Kurt Bock keine Veranlassung für einen Kurswechsel: „Die Diskussion darüber, man würde uns den Gashahn abdrehen, finde ich absurd“, sagte Bock damals. Russland sei ein verlässlicher Lieferant: „Sie bauen sogar Pipelines, um die Versorgungssicherheit des Westens zu erhöhen.“ Inzwischen ist er Vorsitzender des Aufsichtsrats der BASF.

Im Besprechungsraum der BASF, in dem an diesem Tag die Klimaanlage streikt, sind die alten Aussagen kein Thema mehr. Stattdessen skizziert Manager Liebelt Szenarien für den Fall, dass seinem Unternehmen das Gas rationiert werden sollte. Schon jetzt liege man nur noch bei 66 Prozent des maximalen Gasverbrauchs. „Das haben wir nur zu einem kleinen Teil gemacht, um Deutschland zu helfen, denn im Moment gibt es für uns überhaupt keinen Anreiz, das zu tun“, sagt Liebelt. Rund acht Prozent Gas spare man durch technische Maßnahmen ein, der Rest ergebe sich durch heruntergefahrene Produktion. „Bei einem Erdgaspreis von 160 bis 180 Euro pro Megawattstunde gibt es Wertschöpfungsketten, da macht es für uns keinen Sinn, zu produzieren.“ Vor allem die Ammoniak- und die Acetylen-Produktion habe man heruntergefahren. Es gibt also weniger Felddünger und Harnstoffe für AdBlue, einen Abgasnachbehandler für Dieselmotoren. Aber auch Leime und Harze für die Möbelindustrie, Kunststoffe für Lebensmittelverpackungen oder Fasern für Bekleidung werden knapp. Der Preis auf dem Weltmarkt steigt. Kurzfristig können Lagerbestände den Mangel zwar auffangen. Aber Liebelt sagt: „Mittel- und langfristig haben Deutschland und Europa ein Unterdeckungsproblem.“

Noch schmerzhafter werde das Problem, sollte die BASF noch weniger Gas bekommen als die aktuellen 66 Prozent. Die reduzierten Wertstoffketten müssten dann ganz heruntergefahren werden, so Liebelt: „Dann haben Deutschland und Europa ein richtiges Problem.“ Viele Lieferketten würden sofort kollabieren. „Wenn die BASF keine Kraftstoffadditive mehr herstellt, steht einen Tag später der Frankfurter Flughafen still.“ Auch auf der Straße würde man die Folgen schnell spüren. „In drei bis vier Wochen würde der Lkw-Verkehr in Deutschland zusammenbrechen, wenn wir und andere kein AdBlue mehr herstellen können.“ Tabletten in der Pharmaindustrie, Lebensmittelzusatzstoffe, Vitamine, Dialysefilter für Menschen mit Nierenversagen – überall könnte es rasch zu Engpässen kommen.

Für Liebelt ist dies aber noch nicht das schlimmste Szenario: „Wenn wir deutlich unter 50 Prozent Gas sacken, können wir den Standort nur noch komplett abstellen“, erklärt er. „Diese Argumentation haben wir natürlich auch bei Scholz, Habeck und Müller mehrfach vorgebracht“, sagt der Manager über Gespräche mit dem Kanzler, dem Wirtschaftsminister und dem Chef der Bundesnetzagentur.

Ein düsteres Bild, nach dem Deutschland womöglich schon bald eine Katastrophe droht. Doch stimmt es überhaupt? Darüber herrscht unter Experten Uneinigkeit. „Reine Propaganda“ nennt etwa Rüdiger Bachmann, Ökonomie-Professor an der renommierten US-Universität Notre Dame, die Argumentation der BASF auf Nachfrage des Tagesspiegels. Er glaubt, dass der Chemiekonzern deutlich mehr Einsparungspotenzial hat, als er öffentlich zugibt: „Die Wirtschaftsgeschichte zeigt, dass sich Industrieunternehmen in solchen Embargo-Situationen in der Regel sehr schnell anpassen konnten“, sagt Bachmann, der zu Beginn des Ukraine-Kriegs vehement für einen sofortigen Bezugsstopp von Gas aus Russland geworben hatte. Dass dies möglich gewesen wäre, glaubt er noch immer: Die Bundesregierung habe mehr Gas eingespeichert und neue Bezugsquellen gesichert, nur in Sachen Einsparungsmaßnahmen sei zu wenig passiert. Hier sieht Bachmann neben Privatleuten auch Unternehmen wie die BASF in der Pflicht: „Ich kann verstehen, dass man sich vor solchen Maßnahmen scheut, denn sie kosten Geld.“ Das Worst-Case-Szenario – also dass die BASF weniger als 50 Prozent ihres ursprünglichen Gasbedarfs erhält – sei ebenfalls unbegründet, so Bachmann: „Die BASF hätte immer mindestens 50 Prozent ihrer üblichen Menge bekommen, selbst bei einer ganz brutalen Rasenmähermethode. Das war schon immer Alarmismus.“

Doch die Angst verfängt, auch außerhalb des Werksgeländes. Denn das Schicksal von Ludwigshafen und seinen rund 170 000 Einwohnern ist eng verknüpft mit dem der BASF. Der Konzern ist der mit Abstand größte Arbeitgeber in der Region, finanziert Kulturveranstaltungen und Kitas. Die Kläranlage für mehrere Stadtteile wird auf dem Werksgelände betrieben, mittels Fernwärme werden Tausende Wohnungen in der Stadt geheizt.

„Die Leute haben Angst vor dem Winter“, sagt Holger Scharff am Telefon. Als Vorsitzender der Arbeiterwohlfahrt kennt er die Sorgen und Nöte in Ludwigshafen. Rentner, Alleinerziehende und Angestellte riefen nun regelmäßig mit Fragen zu den Gas- und Strompreisen an. „Die Unklarheit, in der die Menschen von der Politik gelassen werden, ist das Schlimmste.“ Ludwigshafen kämpft schon lange mit Problemen. Die Arbeitslosigkeit ist mit mehr als acht Prozent doppelt so hoch wie im rheinland-pfälzischen Durchschnitt. Viele Fassaden bröckeln, Armut grassiert.

Die hohen Energiekosten und die Inflation machten sich in der Stadt schon jetzt bemerkbar, sagt Scharff: „Es wird weniger eingekauft, jeder Euro wird umgedreht“, sagt er. Die lokale Tafel musste unlängst einen Aufnahmestopp verkünden. Zu viele Menschen können sich schon jetzt keine Lebensmittel mehr leisten. Scharff, der auch für die SPD im Stadtrat sitzt, fordert mehr Unterstützung für Geringverdiener und will Strom- und Gassperren, bei denen zahlungsunfähigen Verbrauchern die Energie abgeschaltet wird, gesetzlich verbieten lassen. Doch er macht sich auch Sorgen um die BASF. „Wir müssen auf unsere Industrie aufpassen“, sagt er. „Wenn es der BASF schlecht geht, geht es der Stadt auch schlecht.“

Mit dieser Argumentation macht auch Uwe Liebelt im BASF-Besprechungszimmer Druck auf Ricarda Lang. Er legt ihr interne Berechnungen über mögliche Füllstände des Gasspeichers vor und drängt darauf, dass die Politik noch stärker auf andere Energiebezugsquellen setzen müsse. „Jetzt ist die Zeit, die Kohlereserve schnell ans Netz zu bringen.“ Nur eins von 16 Kraftwerken sei bislang in Betrieb, kritisiert der Manager.

Dass man mittelfristig nach alternativen Quellen für die energiehungrigen Werke wird suchen müssen, hat jedoch auch der Chemiekonzern längst verstanden. Im großen Stil beteiligt sich das Unternehmen inzwischen am Ausbau der erneuerbaren Energien. Ein erster konzerneigener Windpark vor der niederländischen Küste soll 2024 ans Netz gehen. Der Strom, den man dort produzieren will, wird Ludwigshafen aber erst einmal nicht erreichen. Das deutsche Netz kann die zusätzlichen Menge nicht transportieren. Die eigene Leitung, die von der BASF nun gebaut wird, soll erst 2029 fertig sein. Selbst wenn das Gas in diesem Winter reichen sollte, bleibt das Problem in Ludwigshafen noch lange bestehen.

Die Katar-Reise von Wirtschaftsminister Habeck, die neuen Flüssigerdgas-Terminals und die Sparverordnung für private Haushalte begrüßt man daher: „Ich bin heilfroh, dass Robert Habeck dieses Ministerium führt“, sagt Werksleiter Liebelt. Der Wirtschaftsminister agiere in einer ganz anderen Liga als sein Vorgänger.

An Werkstor 12, nur ein paar Schritte vom Alten Fahrrad Bechtel entfernt, sehen das drei junge Männer in blauen Overalls ganz anders. Sie machen gerade Pause und rauchen eine Zigarette. „Die Regierung sollte sich mehr um die eigenen Menschen statt um die Ukraine kümmern“, sagt einer von ihnen. Seinen Namen möchte er nicht nennen. Er ist davon überzeugt, dass die deutschen Waffenlieferungen in das Kriegsgebiet für die aktuelle Gaskrise verantwortlich seien. „Wieso machen wir das?“, fragt er und zieht an seiner Zigarette. „Wir sind der Ukraine doch genauso wenig verpflichtet wie Russland.“

Die drei Männer sind für die Instandhaltung der Infrastruktur auf dem Werksgelände zuständig. Selbst wenn einige Anlagen abgeschaltet werden würden, hätten sie wohl noch genug Arbeit. „Das wird schon nicht so schlimm“, sagt der junge Mann. Seine Duschzeit habe er nicht reduziert. Über die Spartipps von Robert Habeck feixen sie. „Ab und zu mache ich ein Teelicht an“, sagt der eine, die anderen klopfen ihm lachend auf die Schulter. Dann drücken sie die Zigaretten auf der Mauer aus und gehen zum Alten Fahrrad Bechtel. Mittagessen.