Man wird doch wohl noch Israel kritisieren dürfen!? Diese rhetorische Fragefigur von selbsternannten Israelkritikern wurde unter anderem berühmt durch den umstrittenen FDP-Politiker Jürgen Möllemann. Der hatte im September 2002 eine Postwurfsendung an alle Haushalte in Nordrhein-Westfalen verteilen lassen. Das zitronengelbe Faltblatt zeigte Fotos von Israels Ministerpräsidenten Ariel Scharon und dem damaligen Vize-Vorsitzenden des Zentralrates der Juden Michel Friedman. Zu lesen war: „Jürgen W. Möllemann setzt sich seit langem beharrlich für eine friedliche Lösung des Nahost-Konflikts ein.“ Dem stünden jedoch Akteure im Weg wie Scharon und Friedmann, der ihn, Möllemann, seit 1995 Präsident der Deutsch-Arabischen Gesellschaft, als „antisemitisch“ abstempele.

„Israelkritik“ ist längst ein eigenes Politgenre und wird zunehmend auch von der Linken bedient. Unter „Israel“ versteht die postkoloniale Theorie „die letzte, verbliebene Kolonialmacht“, die Palästinenser sieht sie hingegen als die weltweit am stärksten unterdrückte Bevölkerungsgruppe an. Dass Israel, bei allen politischen Fehlern und trotz einer nationalkonservativen Regierung, als einzige Demokratie im Nahen Osten Freiheiten für Lesben, Schwule und trans Personen bietet, wird in diesem Rahmen gern als perfides „Pinkwashing“ eingeordnet.

Auf solcher Basis formierte sich die 2005 von palästinensischen Organisationen gegründete BDS-Kampagne (Boycott, Divestment and Sanctions), die zum Boykott jüdischer Kunstschaffender, Wissenschaftler und Sportler aus Israel mobilisiert. Erfolge feiert BDS, wenn Lionel Messi ein Freundschaftsspiel in Israel absagt. Oder eine Musikerin ein Konzert, weil andere Musiker von der israelischen Botschaft einen Reisekostenzuschuss erhalten haben.

Boykottiert werden sollen laut BDS außerdem israelische Produkte. Ziel ist es, die „Besetzung und Kolonisierung arabischen Territoriums“ zu beenden, die Gleichberechtigung arabisch-palästinensischer Bürgerinnen und Bürger zu erreichen und die Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge gemäß einer UN-Resolution von 1948. Ein Echo findet das an Hochschulen und im Kulturbetrieb, von den USA bis Südafrika. Und immer öfter auch in Deutschland.

Im Dezember 2020 erklommen deutsche Kulturinstitutionen die Bühne für ihr Plädoyer gegen den Boykott der Boykotteure. Die „Initiative GG 5.3 Weltoffenheit“ will erreichen, dass der Bundestag seine BDS-kritischen Empfehlungen vom Mai 2019 zurücknimmt, wonach „Antisemitismus in allen seinen Formen zu verurteilen“ sei. Ausdrücklich wurde darin auch die BDS-Kampagne erwähnt. Den Aufruf von „GG 5.3 Weltoffenheit“ unterzeichnete alles, was in der Kultur Rang und Namen hat: die Berliner Festspiele, der DAAD, das Goethe-Institut, die Kulturstiftung des Bundes, das Moses-Mendelssohn-Zentrum für europäisch-jüdische Studien, das Humboldt Forum, das Wissenschaftskolleg zu Berlin und rund ein Dutzend mehr.

Die Kultureinrichtungen protestieren gegen die Empfehlung des Bundestags, dass Organisationen, die das Existenzrecht Israels infrage stellen oder zum Boykott Israels aufrufen, keine staatlichen Mittel mehr erhalten sollen. Den Antrag hatten Ralph Brinkhaus für die CDU, Alexander Dobrindt für die CSU, Andrea Nahles für die SPD, Christian Lindner für die FDP sowie Katrin Göring-Eckardt und Anton Hofreiter für die Grünen unterzeichnet. Rechtlich verbindlich ist die Empfehlung freilich nicht.

So entschied der Bayerische Verwaltungsgerichtshof Mitte November 2020, dass die Stadt München der BDS-Kampagne öffentliche Räume vermieten muss, obwohl der Stadtrat diese verweigert hatte. Charlotte Knobloch zeigte sich erschrocken über den Entscheid des Verwaltungsgerichts. Die Holocaust-Überlebende und ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland erklärte, BDS sei „ungefilterter Israelhass und hat mit einer kontroversen politischen Auseinandersetzung nichts zu tun“.

Die „Initiative GG 5.3 Weltoffenheit“ wiederum erklärt den kulturellen und wissenschaftlichen Austausch „für grundlegend“ und lehnt daher den BDS-Boykott ab. Die Resolution des Bundestages folge einer „gefährlichen“ Logik. Mittels „missbräuchlicher Verwendungen des Antisemitismusvorwurfs“ würden „wichtige Stimmen beiseite gedrängt und kritische Positionen verzerrt dargestellt“.

Ähnlich äußerte sich Tage darauf ein nicht weniger hochnotpeinlicher Offener Brief unter der Überschrift „Wir können nur ändern, was wir konfrontieren“, unterzeichnet von mehr als tausend Kunstschaffenden, die meisten davon aus Berlin. Paradoxerweise aus Sympathie mit Menschen, die ja nun gerade nicht konfrontieren, sondern boykottieren wollen. Befürchtet werde eine „übereifrige Überwachung der politischen Ansichten von Kulturschaffenden aus dem Nahen Osten und dem globalen Süden“.

Die Bemerkung spielt auf den kamerunischen Philosophen Achille Mbembe an, der Israel als „Apartheidsstaat“ brandmarkt und im vergangenen Sommer die Ruhrtriennale eröffnen sollte. Man lud ihn wieder aus, als seine Einlassungen zu Israel auf Kritik stießen. Das Festival wurde wegen Corona dann ohnehin abgesagt. Angesagt aber war in der Kulturszene die Empörung über die vermeintlich rassistische Diskriminierung eines afrikanischen Denkers. Zurückgeführt wurde sie auf den BDS-Beschluss.

Einen Erfolg feierte die BDS-Kampagne, als Ende 2018 sieben jüdische israelische Akademiker von einer Konferenz an der Universität Stellenbosch in Südafrika ausgeschlossen wurden. Auf der Konferenz „Anerkennung, Reparation, Versöhnung“ ging es um transgenerationelle Traumata in der Folge von Genozid und Kolonialismus. Die sieben Wissenschaftler wurden ausgeladen, obwohl keiner von ihnen für Israels Palästinenserpolitik eintritt. Unter ihnen war auch Shifra Sagy, eine engagierte Konfliktforscherin von der Ben-Gurion-Universität. Den Protest hatte unter anderem Achille Mbembe unterstützt. Bedrohlich fand man an der Universität die „Normalisierung“ des Verhältnisses zu Israel. Solange Palästinenser litten, dürfe solch ein Eindruck nicht erweckt werden.

Erstaunlich ist, dass die milliardenschwere Präsenz chinesischer Konzerne in Afrika dagegen kaum auf Widerstand stößt, ungeachtet der Verfolgung von Millionen muslimischer Uiguren in China. Wenn es um eine Kritik an Israel geht, wird mit zweierlei Maß gemessen. Antisemitismus wie Antizionismus waren vor allem von westlichen Nationen in die Staaten des globalen Südens eingetragen worden. Heute entfaltet das Konstrukt von Israel als globalem Sündenbock eine Entlastungsfunktion. Schuld an gegenwärtigen ökonomischen Miseren der dekolonisierten Staaten sei die imperialistische, euro-amerikanische Matrix der Macht, die wiederum im Bunde mit dem „Apartheidsstaat“ Israel gesehen wird, dem „letzten Kolonialregime“. Zumindest auf der Landkarte, die der ideologische Modesog somit zeichnet, herrscht Klarheit in einer Ära neuer Unübersichtlichkeit.

Wenn die deutschen Kulturschaffenden jetzt behaupten, die Weigerung, Israel-Boykotteuren Staatsgelder zukommen zu lassen, sei „Racial Profiling durch die Hintertür“, ist das auf fast komische Weise entlarvend. Indirekt räumen sie damit ihre eigene Projektion ein, kulturelle Partner aus dem „globalen Süden“ kämen ohne Israelfeindschaft nicht aus. Will man Rapper aus arabischen Staaten einladen, die allemal cooler wirken als Klezmermusiker, käme man kaum umhin, so suggeriert die Profiling-These, zugleich „Israelkritiker“, die subkutan mit antisemitischen Ressentiments argumentieren, an Bord zu hieven.

Ohne Protagonistinnen und Protagonisten aus dem globalen Süden wiederum erfüllen kulturelle Großevents kaum den aktuell geltenden, postkolonialen Anspruch. Doch gerade das im Süden so beliebte Germany könnte hier produktiv daran gehen, diese verzerrte Perspektive zurechtzurücken, um einer im heutigen postkolonialen Diskurs in die Irre laufenden Opferkonkurrenz mit der Shoah zu widersprechen, statt einen Kotau vor „Israelkritik“ zu machen. Appelle an Weltoffenheit wären mehr als angebracht.

Es scheint, als haben einige Kulturinstitutionen schlichtweg nicht verstanden, wofür sie hier ihre Namen hergeben; und womöglich ist dabei auch Gruppendruck im Spiel. Man möchte dazu gehören und erliegt der magnetischen, betäubenden Wirkung der BDS-Intensität. Auffällig ist die betretene Verlegenheit, mit der manche der deutschen Kulturschaffenden im persönlichen Gespräch auf solche Fragen zu Israel reagieren. Gar so sicher scheinen sie sich dann nicht zu sein.

Kulturelle Zivilcourage wie die der Zeitschrift „Texte zur Kunst“ mit ihrem Heft vom September 2020 zum „Anti-Antisemitismus“ ist bisher noch selten, zeigt aber einen Ausweg auf. Ein Kultur-Dissident gestand neulich allerdings ketzerisch in kleiner Runde: „Mir liefert BDS klasse Anregungen zum Kauf von den genau den israelischen Waren, die sie auflisten.“ Gebraucht wird gleichwohl mehr: eine intelligente, bewusste, empathische Analyse der Dilemmata in dieser völlig verfahrenen Chose.